Als ich vor dem Urlaub das Interview mit Xavi vom FC Barcelona las, das Javier Cáceres für die Süddeutschen Zeitung geführt hat, musste ich mal wieder an das Verhältnis von Fußball und Kunst denken. Vor etwa zwanzig Jahren noch konnte ich in einem kleinen Text das Reden über Literatur gänzlich vom Reden über Fußball unterscheiden. Ich hatte damals ganz im Sinne von Pierre Bourdieus „Die feinen Unterschiede“ darauf hinweisen wollen, wie das Reden über die Kunstart Literatur auch als ein Mittel funktioniert, mit dem sich die Menschen dieser Gesellschaft sozial abgrenzen – vorzugsweise nach unten. Das Reden über Fußball kannte diese Möglichkeit nicht. Über Fußball konnten im Gegensatz zu den Kunstarten alle reden. Es gab kein Fachvokabular als Signal für ein Expertenwissen, und es wurde vornehmlich über Geschmack gestritten.
Seitdem hat sich naturgemäß viel verändert. Das öffentliche Reden über Literatur hat sich weiter demokratisiert. Geschmack rückte als Argument für Werturteile auch beim öffentlichen Reden über Literatur in den Vordergrund. Dagegen hat sich das Reden über Fußball dem alten Reden über Literatur als Kunstart angenähert. Es entstand ein Kanon an Expertenwissen, und es gibt Menschen, die anderen Zuschauern den Fußball erklären helfen. Damit meine ich natürlich nicht jeden ehemaligen Fußballer als TV-Experten. In diesem Medien-Expertentum entstanden Hierarchien.
Selbstverständlich lassen sich unterschiedliche Gründe für dieses veränderte Reden über Fußball finden. Über allem steht, Fußball ist für diese Gesellschaft immer wichtiger geworden. Die vereinzelten Stimmen der 70er, die von Fußball-Kunst sprachen, wurden zu einer Art Fußball-Kunstbetrieb, dessen Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft sind. In diesem Betrieb mischen sich die alten Sprechweisen mit den neuen. Manchmal aber höre ich diesem Reden über Fußball zu und erlange schlagartig die Gewissheit, dieser Sport gehört längst zu den Kunstformen der Gegenwart.
Die großen Fußballer dieser Zeit wie Xavi wissen das, und wie alle Künstler wissen sie auch um die Beschränktheit ihres gegenwärtigen Publikums.
SZ: Ist Ihnen bewusst, dass keiner von den Spielern, die Sie nennen, je zum weltbesten Fußballer gekürt worden ist?
Xavi: Das Problem ist, dass 95 Prozent der Menschen Fußball mögen, aber nur zwei Prozent wirklich was verstehen. Einer meiner besten Freunde ist total fanatisch. Der guckt alles. Kennt alle. Und hat trotzdem nicht die leiseste Ahnung. Ich sage dem immer Sachen, wie: „Schau, der macht dumme Fouls, der ist nicht solidarisch . . .“ –, aber der sieht das nicht. Der hört einfach nicht zu.
SZ: Am Ende gewinnen bei Fußball-Wahlen immer die, die Tore schießen.
Xavi: Die Leute schauen nur auf die Resultate. Als wir nichts gewannen, galt unser Fußball irgendwie als schäbig. Jetzt sind wir die Referenz der Welt! Das ist doch zum Lachen. Ich habe vor fünf Jahren genau so gespielt wie jetzt. Und ich meine: genau so!
Da spricht Xavi mit dem Selbstverständnis eines Künstlers. Sein Können versteht er als interesselose Kunst und sein Spiel ist Arbeit an der Vollkommenheit. Das ganze Interview findet sich übrigens nicht im Online-Portal der Süddeutschen Zeitung. Aber es gibt ein Pdf-Dokument, das aus den Tiefen des SZ-Archivs auf der dritten Google-Seite auftaucht, wenn man Xavi Interview und Süddeutsche Zeitung googelt.
1 Antwort to “Der Fußball als Kunstart der Gegenwart”