Klares Denken wieder möglich?

Haben wir uns alle wieder im Griff zwei Nächte nach der 2:1-Niederlage gegen Rot-Weiß Oberhausen im Niederrheinpokal? Schaffen wir es mit ein wenig Abstand, auch etwas sachlicher über diese Niederlage nachzudenken? Nicht dass wir uns missverstehen. Ich war am Freitag sehr enttäuscht. Ich habe mich geärgert über die so schwache Offensive der Zebras. Ich habe geschimpft. Nach dem Abpfiff kam der Ärger über einen Teil der Kurve hinzu, der die Spieler mit Gegenständen bewarf. Am Tribünenzaun neben dem Spielertunnel hätte sich jemand am liebsten mit Bouhaddouz geprügelt. Angepackt hatte er ihn schon. Was für Zustände wenige Wochen nach dem Saisonstart.

Am Samstag setzte sich mein Ärger aber fort, als ich mir die Pressekonferenz nach dem Spiel ansah. Torsten Ziegner redetet sich in kontrollierte Rage. Fehlende Leidenschaft war das Leitmotiv seiner Tirade. Benzin ins Feuer auf den Rängen ist das passende Bild dazu, und ich muss sieben Jahre nach der Niederlage gegen RWO im Niederrheinpokal der Aufstiegssaison wieder einen Trainer erleben, der seine Mannschaft dem Volk zum Fraß vorwirft.

Mich hat er überhaupt nicht überzeugt mit seiner Tirade. Leidenschaft hat mir in dieser so von ihm wahrgenommenen, übersteigerten Form nicht gefehlt. Ich habe damit eine Minderheitenmeinung, das ist mir schon klar. Ich will sie also mal begründen.

Vor vier Wochen etwa habe ich RWO im Ligaspiel gegen Lippstadt gesehen. Es war ein miserables Spiel, das Unentschieden endete. Die Mannschaft gestern hat zwei bis drei Klassen besser gespielt, und damit sollte sich Torsten Ziegner vielleicht an sein kurzes Zögern auf der Spieltags-PK erinnern, als er gefragt wurde, ob er seine Mannschaft als Favorit ansehe. Natürlich musste er sich dazu bekennen, doch wie er seine Antwort einpackte, zeigte auch, ganz so klar waren die Verhältnisse nicht. Vor der Saison wollte RWO um den Aufstieg mitspielen.

RWO begann das Spiel am Freitag, wie wir es in Duisburg aus unseren Spielen gegen höherklassige Mannschaften im DFB-Pokal kennen. Erinnert ihr euch noch an die erste halbe Stunde im Spiel gegen Hoffenheim? Zwei Ligen höher damals. In dieser ersten halben Stunde haben wir den Gegner dominiert. RWO hat den MSV zunächst nur 20 Minuten in die Bredouille gebracht. Mir ist ein Rätsel, wieso ein Trainer bei dieser Konstellation von fehlender Leidenschaft in den ersten 20 Minuten spricht. Die Wucht der klassenniedrigeren Mannschaft mit Aufstiegsambitionen musste erstmal ausgehalten werden. Das haben die Zebras geschafft. Nach etwa 20 Minuten kam das Spiel in ein Gleichgewicht. Dennoch gelang den Oberhausener Spielern technisch fast alles, was in dem Spiel der Liga zur Lachnummer wurde.

Symbolhaft war für mich ein langer Ball RWOs auf den rechten Flügel. Eigentlich kam der zu kurz. Er fiel dem Oberhausener Leichtathleten unter den Fußballern auf den Rücken in Schulterhöhe. Doch der Spieler konnte die Geschwindigkeit des Passes mit einer Schulterdrehung zur Vorlage für sich selbst machen, ein fußballerischer Trick höchster Güte, der ihm zwei Meter Vorsprung vor seinen Verteidiger gab. Wie oft gelingt das? Die Spieler von RWO waren in einem Flow, der erst einmal gebrochen werden musste. Das gelang aus meiner Sicht, und das hat mit Leidenschaft zu tun.

Schauen wir nun auf das, was die Zebras aus diesem Gleichgewicht in der Offensive machten. Die vornehmliche Lösung für die Frage, wie komme ich in den Oberhausener Strafraum, hieß Flügelspiel. Es gab einige Flanken auf die andere Seite des Strafraums oder Pässe auf Verdacht in den Rückraum. Dummerweise war der Strafraum in solchen Momenten gut gefüllt mit Oberhausener Spielern. Die Pässe auf Verdacht gingen ins Nichts. An jeden hoch geschlagenen Ball kam zuerst ein Oberhausener Spieler. Mit mehr Leidenschaft ist dieses Problem leider überhaupt nicht zu lösen. Da müsste es mehr Glück durch Zufall heißen. Vielleicht könnte man von der Hoffnung auf einen besseren Instikt der Zebra-Stürmer sprechen, der zum fußballerischen Können gehört.

Zu Beginn der zweiten Halbzeit war der Ausgang des Spiels eine offene Angelegenheit. Blicken wir wieder auf die Leidenschaft und nehmen wir erneut eine andere Perspektive ein. Zeugt die Rote Karte für Ajani vielleicht von zu viel Leidenschaft? Da will einer auf jeden Fall an den Ball kommen, sieht vorne und hinten nichts, hebt das Bein und schon ist es zu hoch. Wie war das mit Sebastian Mai und der Leidenschaft? Gibt es vielleicht auch eine Kehrseite dieser so grundweg positiv angesehenen Einstellung zum Spiel? Was passiert, wenn Spieler mit Leidenschaft und Charakter über ihre Grenzen gehen. Denn das ist ja die Voraussetzung des Spiels, das momentan vom Trainer verlangt wird. Kann das zu Unfallverletzungen der Spieler führen? Eine Frage für die Sportwissenschaftler, die ich nur stelle, damit klar ist, so einfach ist das mit der Leidenschaft nicht.

Die Rote Karte verunsicherte. Es fiel das Gegentor. Wie sollte diese Mannschaft mit dieser Spielanlage den Ausgleich erzielen? Ich sah keine Chance, aber den Willen zum Ausgleich, den sah ich. Erst nach dem zweiten Tor der Oberhausener begann das vogelwilde Spiel mit langen Bällen. Normalerweise brauchen diese langen Bälle mehr Glück zum Erfolg als ein Passpiel über die Flügel etwa. Beim MSV war das anders. Erst die langen Bälle brachten endlich Torgefahr und Durcheinander in der Oberhausener Defensive. Nicht genug, wie wir wissen. Doch werden wir mit dem wilden Anrennen an die Struktur erinnert. Denn auch zu dem Zeitpunkt habe ich Leidenschaft wahrgenommen.

Leidenschaft braucht eine Struktur, die sie sinnvoll erscheinen lässt. Es muss doch auf den Rängen genügend Mannschaftssportler geben, die aus eigener Erfahrung, egal in welcher Sportart, dieses vergebliche Mühen kennen und die innere Erschöpfung durch Vergeblichkeit. Mangelnde Leidenschaft als Grund für diese Niederlage zu benennen, ist für mich so unergiebig, dass ich mir über die nächsten Wochen am liebsten gar keine Gedanken mehr machen möchte. Spieler brauchen eine Struktur des Spiels, das ihrem Können gemäß ist. Natürlich machen die vielen Ausfälle es schwierig, die Struktur aufrecht zu erhalten, an die gedacht war. Dann brauchen wir einen Trainer, der erklärt und um Geduld bittet für den eingeschlagenen Weg.

Was wir nicht brauchen, ist der Verweis auf die populistische Münze Leidenschaft. Wir sollten uns an die Binse des Gegenwartsfußball erinnern, dass die Qualitätsunterschiede zwischen „großen“ und „kleinen“ Mannschaften geringer geworden sind. Die Stimmungsextreme im Ruhrgebietsfußball machen das Arbeiten hier schwer. Kontinuierlich etwas aufbauen, heißt es immer wieder. Im Ruhrgebiet kaum möglich. Natürlich höre ich darauf die Erwiderung jetzt schon, was haben wir für Jahre mit solchem Gerede hinter uns. Wir arbeiten aber gerade die Konzeptionslosigkeit der letzten Ivo-Jahre ab. Ich wünsche mir dafür einen Trainer, der sich darüber im Klaren ist und der die Schwächen seines Kaders der Öffentlichkeit in moderierender Form nahe bringt. Das ist ein Seiltanz, weil er sie nicht benennen darf und er doch den Blick für die Wirklichkeit öffnen muss. Und diese Wirklichkeit bedeutet mehr als Leidenschaft und Charakter. Dazu gehört die Struktur des Spiels. Beides steht in einer Wechselwirkung zueinander. Momentan höre ich einen Torsten Ziegner, der ersteres als Voraussetzung von zweitem ansieht. Das macht mir Bauchschmerzen – viel zu früh in der Saison.

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5 Antworten to “Klares Denken wieder möglich?”


  1. 1 jovan 27. September 2022 um 12:50

    nur kurz zu den traurigen tröpfen im oberhauser ultra-block:
    jeder blamiert sich, so gut er kann. und männer, die die anwesenheit von frauen bedrohlich oder unangenehm finden, brauchen unser aller hilfe und mitgefühl. ich hoffe, die noch pleitere stadt östlich von Hamborn kann ausreichend psychologische und sozialpädagogische hilfe stellen. 😉

    Gefällt 1 Person


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