Gastbeitrag: Klaus Hansen mit seinem WM-Tagebuch – III – Ende der Vorrunde

Vor der WM war mit Klaus Hansen ein alter Bekannter aus der MSV-Welt mit seiner WM-Prognose hier zu Gast. Schon mehrere Male waren in diesen Räumen Beiträge von ihm zu lesen. Der 1948 geborene Sozialwissenschaftler Klaus Hansen besucht seit der ersten Bundesliga-Saison bis heute die Spiele des MSV. Der Fußball ist ihm immer wieder Anlass zu Essays und literarischer Kunst, so auch in dem Fall die Weltmeisterschaft. „Der Scheich tritt auf“ hat er seine „WM-Notizen November / Dezember 2022“ genannt. Dankenswerter Weise hat er sie mir zur Veröffentlichung geschickt. In mehreren Folgen könnt ihr sie nun lesen.

Bitte schön!

1. 12. 22

Deutschland ist raus!Deutschland? Die Auswahlmannschaft eines eingetragenen Vereins namens „Deutscher Fußball-Bund e. V.“ ist ausgeschieden. Mit einem Vereinstrainer, der sich die Aura des Bundeskanzlers erschleicht, wenn er sich „Bundestrainer“ nennt. Dass er sich „Hansi“ rufen lässt, beschädigt allerdings die Aura. Andererseits reiht er sich ein in die i-Tüpfelchen-Dynastie der Rudelführer: Rudi, Klinsi, Jogi – Hansi. Dabei ist alles so einfach. 2014, in Brasilien, hatte man mehr Glück als Pech, heute, in Katar, hatte man mehr Pech als Glück. Mit Können (Willen, Einstellung, Motivation, papperlapapp) hatte das nichts zu tun. Das ist ja das Schöne am Fußball: Er dreht dem Leistungsgedanken immer wieder eine lange Nase. Da strengen sich die Athleten an wie doof – und was bringt’s, Bruda? Oft ist eine Unebenheit in der Wiese entscheidender als die 13 Kilometer, die jeder Spieler geschrubbt hat. Trainer Perelman muss das alles im Sinn gehabt haben, als er seine Truppe mit den Worten aufs Feld schickte: „Macht’s Beste draus, Männer, wird schon nichts Gutes werden!“ Das ist Fußball! Das macht ihn so liebenswert!

2. 12. 22

Deutsche Fans klagen über das Wetter in Katar. „Dauersonne“, jeden Tag. „Auch wenn deine Mannschaft am Abend verloren hat, brettert am Morgen der Lorenz vom Himmel.“ Kein Wunder, dass hier alles Wüste ist. Man sehnt ich zurück ins Hohe Venn, in den Hunsrück, ins Tecklenburger Land.

Diversity wins

Vielfalt gewinnt. Steht in Riesenlettern auf der Lufthansamaschine, mit der die deutsche Mannschaft nach Katar reiste. Und es war drin, was draufstand: eine vielfältig zusammengestellte Truppe. Spieler mit türkischem, senegalesischem, ivorischem und sierra-leonischem Hintergrund. Natürlich auch indigene Oberbayern, Westfalen und Schwaben. Vielleicht war es nicht genug Diversity, um den Pokal zu gewinnen. Vielleicht fehlte etwas Queeres. War ein Coronaleugner dabei?

Fahnenwörter

Leitparolen, unter denen die deutsche Fußballnationalmannschaft bei den letzten Weltmeisterschaften angetreten ist: BEREIT WIE NIE (2014), BEST NEVER REST“ (2018), DIVERSITY WINS (2022). – „Mehr Mittelstürmer, weniger Marketing!“, ruft das Fachmagazin den DFB-Funktionären zu. Leitparole für 2026?

Scharmützel

„Deutschland ist wie sein Fußball“, schreibt die Neue Zürcher Zeitung, „ziemlich weit unten angekommen.“ Und die Schweiz? Hat ein Spiel mehr gebraucht, um nicht viel höher anzukommen.

Unverdiente Häme

„Generation Schneeflocke“ (FAZ), „Generation Blech“ (kicker). Intelligenzblatt und Fachmagazin ziehen über die deutschen Spieler her. Dabei war es das Beste, was Deutschland zu bieten hat. Und man war ja auch nach der Vorrunde die Beste von allen 32 Mannschaften. Mit 10,4 Expected Goals („xGoals“, in der Fachidiotensprache) liegt man mit weitem Abstand auf Platz 1: Über zehn hundertprozentige Torchancen, aber Pfosten, Latte oder der schwache Moment, aus fünf Metern das leere Tor nicht zu treffen, machten aus alledem nichts. Das Verhältnis von todsicheren Chancen zu tatsächlichen Treffern lag bei 10,4 : 6. Frankreich kommt auf 7,4 : 6, England auf 5,3 :9. Keine Mannschaft schoss so oft aufs Tor wie die deutsche, keine war so häufig so nahe dran. Dann ist es gekommen, wie es kommen musste: Zuerst fehlte das Glück, dann kam auch noch Pech dazu. Wer jetzt „Rücktritt!“ ruft und nicht den Fußballgott meint, der hat nichts verstanden.

Gedankenspiele

1990. Deutschland war Weltmeister geworden. Teamchef Beckenbauer erklärte, man werde nun auf Jahre hinaus unschlagbar sein. Denn der weltmeisterliche Kader werde durch die bevorstehende „Wiedervereinigung“ noch viel besser, weil die Top-Spieler aus der DDR hinzukommen. Aber es dauerte 24 Jahre, bis es wieder mit dem WM-Titel klappte, 2014 in Rio. Wiederum sah man darin den Beginn eines glorreichen Jahrzehnts, in dem der schnelle deutsche „Präzisionsfußball“ mit einem Torwart als elftem Feldspieler und „Libero“ die Fußballwelt dominieren werde. Aber 2018 schied man erstmals schon nach der Vorrunde aus. 2022 dasselbe. – Kann es also sein, dass das, was man für den Beginn einer Ära hält, bereits ihr Höhepunkt ist? Kann es also sein, dass man immer im Erfolg die größten Fehler macht? Erst wer gelernt hat, den Erfolg zu verkraften, ist fähig, ihn zu wiederholen? Läuft so der Hase, im Fußball wie im Leben?

Die Gutmütigen

Können besteht aus Begabung und Übung. Wer Talent hat und fleißig ist, bringt es zu was. An Begabung und Übung fehlt es den deutschen Spielern nicht. „Wille“, „Gier“, „Härte“ sind es, die angeblich fehlen. „Das Unbedingte“, meint ein Beobachter aus dem Springer-Hochhaus. Also etwas Hitlerisches? Das wäre ein angenehmes Defizit. Damit könnte man in der Welt bestehen, auch ohne zu siegen.

Neue Sucht

Spanien ist der spanischen Krankheit erlegen. „Passsucht“ heißt die spanische Krankheit. Erbsenzähler haben 1019 (in Worten: ein-tausend-neun-zehn) gelungene Pässe von Spieler zu Mitspieler gezählt. Im Spiel gegen Marokko. Weltrekord! Dass man versäumt hat, ein Tor zu schießen und das Turnier verlassen musste, ist im Jubel über die imposante Zahl untergegangen.

Regelbruch

Ende der Vorrunde. Das Gros der Spiele ist gespielt. 48 von 64 Partien. Stimmt das? 48? Wenn man genauer hinschaut, waren es fast 54. Denn auf 525 Minuten addiert sich die Nachspielzeit aller 48 Begegnungen, also fast sechsmal 90 Minuten. In der Reportersprache ist mit der 90. Minute die „reguläre Spielzeit“ beendet. Was jetzt folgt, ist die „Nachspielzeit“; das Adjektiv „irregulär“ unterschlägt man. Fußball ist ein Sport, in dem die Zeit das Spiel bestimmt, anders als im Handball oder Eishockey. Nach 90 Minuten auf der Uhr hat Schluss zu sei, egal, was bis dahin an Unterbrechungen und Zeitschinderei geschehen ist. So will es die Regel.

Nun sind wir in einer Phase angelangt, wo auf 48 reguläre sechs irreguläre Spiele kommen. – Legal, illegal, scheißegal? Unser „wertebasierter“ Fußball!

Folge I

Folge II

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