Es gab mal eine Zeit, in der in deutschen Wohnzimmern millionenfach die Eheratgeber des Bertelmann Leserings standen. Männer und Frauen wussten noch, wohin sie gehörten. Er ging in die feindliche Welt hinaus, um mit harter Arbeit das Geld zu verdienen. Sie kümmerte sich um den Haushalt und sorgte für die Kinder. Der Eheratgeber dieser Zeit verrät, auch diese Paare hatten es schwer.
Wenn er erschöpft von der Arbeit nach Hause kam und sich nach Ruhe sehnte, brauchte sie Zuwendung nach einem Tag, an dem sie außer mit den Kindern mit niemandem sonst gesprochen hatte. Er verstand nicht, wieso sie unzufrieden war. Sie hatte doch alle Zeit der Welt, konnte machen, was sie wollte. Er dagegen schuftete, um den Wohlstand der Familie zu sichern. Dort, wo sie jetzt waren, wären sie ohne seine Arbeit niemals hingekommen. Sie dagegen vermisste nicht mehr als ein kleines Zeichen, dass auch er etwas fühlte in dem gemeinsamen Leben. Sie wollte mit ihm zusammen lachen, liebevoll sein, vielleicht auch weinen, all das spüren, was ihr wichtig war.
Vielleicht sollten wir alle beim MSV uns die alten Eheratgeber des Bertelsmann Leserings ansehen. Wir erleben gerade eine Saison, die mich an eine Ehe der 50er Jahre erinnert. Wir auf den Rängen sehnen uns nach Gefühl. Dort auf dem Spielfeld und auf der Trainerbank geht es um das Ergebnis. Wir auf den Rängen sehen den Moment des Spiels. Dort auf dem Rasen und auf der Trainerbank steht das Ziel für die gesamte Saison im Mittelpunkt.
Was für eine widerspruchsreiche Saison erleben wir gerade. Fünf Spieltage vor Saisonende kommen nur etwa 12.800 Zuschauer ins Stadion, um einen weiteren wichtigen Schritt Richtung Aufstieg zu erleben. Dann gewinnt der MSV Duisburg das Spiel gegen den FSV Frankfurt nach 0:2-Rücksstand mit 3:2. Zudem führt der MSV Duisburg mit 6 Punkten Abstand auf den Relegationsplatz weiter die Tabelle an. Diese Tabellenführung gibt es seit dem 9. Spieltag. Die Stimmung rund um den Verein ist dennoch so, als würden wir seit Wochen vergeblich auf den Relegationsplatz schielen.
Das liegt natürlich auch an den gezeigten Leistungen der Mannschaft, und dass der Fußball nicht ausschließlich eine rationale Sache ist. Es geht eben nicht immer nur um das Ergebnis. Auch ich konnte mich nach dem Spiel gestern nicht richtig freuen. Die erste Halbzeit hatte meine Stimmung auf eine Weise in den Keller gebracht, dass dazu mehr als ein in acht Minuten heraus gespielter Sieg nötig gewesen wäre. Hätte die Mannschaft so einen Eheratgeber mal gelesen, hätte sie nach dem Führungstor noch ernsthaft versucht, ein weiteres Tor zu erzielen. Damit erst wäre die erste Halbzeit halbwegs in Vergessenheit geraten. Doch mit dem weiteren Verlauf bis zum Schlusspfiff machte sich die Sicherheit als notwendiges Spielkonzept wieder deutlicher bemerkbar und brachte die erste Halbzeit sogar wieder in Erinnerung.
Hätten allerdings auch wir auf den Rängen den Eheratgeber schon gelesen, könnten wir vielleicht besser verstehen, dass ohne das erfolgreiche Erledigen der Arbeit, sprich das Erreichen des Saisonziels, unser Ärger über das Ausbleiben eines emotionalen Spiels ganz von selbst verschwinden wird, weil auch dem MSV das Verschwinden in die sportliche Bedeutungslosigkeit droht. Sicherheit ist womöglich für diese Saison kein schlechter Gedanke.
Natürlich passt das Bild der 50er-Jahre-Ehe nicht vollkommen. Sobald die sportliche Leistung in den Blick gerät, geht es nicht mehr um gegenseitiges Verstehen sondern nur noch um die Leistung. In der ersten Halbzeit mangelte es dem MSV an allem, was für den Sieg eines Fußballspiels nötig ist. Wenn fast bei jeder Ballberührung eines Zebras die Sicherheit als erklärtes Spielprinzip im Kopf vorhanden zu sein scheint, entsteht kein Offensivdruck. Wie soll die Mannschaft so ein Tor erzielen? Hinzu kamen zwei Gegentore, bei denen die Defensive der Zebras so gut wie nicht vorhanden war. Bei so einem Spielstand ist Sicherheit als Spielkonzept nicht ganz gelungen gewesen.
In der zweiten Halbzeit sah man, wie das gelingen kann. Der vornehmliche Gedanke der Spieler schien nun nicht mehr die Sicherheit zu sein, sondern die Bewegung Richtung gegnerisches Tor. Die Offensivaktionen selbst unterschieden sich gar nicht so sehr von denen in der ersten Halbzeit. Alles geschah nun nur schneller und damit wurden die Frankfurter vor Probleme gestellt. Der FSV hatte nicht mehr jedes Mal die Zeit, die Defensive zu formieren, und nur dann macht so eine Defensive Fehler. Enis Hajri hatte schon in der ersten Halbzeit einige Flanken in den Frankfurter Strafraum geschlagen. Sie blieben ungefährlich. In der zweiten Halbzeit war das anders. So eine Flanke aus dem Halbfeld schlug er erneut. Vergeblich kam der Torwart aus seinem Tor heraus, und so fiel ein Kopfballtor fast ähnlich dem von Zlatko Janjic in Halle. Ein Tor, was in der 2. Liga eher selten fällt, weil die Flanke so lange in der Luft ist, und die Defensivspieler samt Torwart sicherer spielen.
Auch beim zweiten Tor zwang der Offensivdruck des MSV zu einem noch gewichtigeren Fehler. Tugrul Erat setzte sich am rechten Flügel mit rasantem Sprint durch. Die scharfe Flanke in den Rücken der Defensive halbhoch vor das Tor folgte. Diese Art Flanken sind immer gefährlich. Wenn ein gegnerischer Verteidiger den Ball ins eigene Tor bringt, nehmen wir das ohne Murren, aber mit zwiespältigem Gefühl, weil auch damit die Leistung des MSV nicht alleine dasteht. Im Grunde war dieses Spiel ein Sinnbild für die Saison, bei der wir uns immer auch auf die Misserfolge der Gegner verlassen können. Das Führungstor durch Enis Hajri per Kopf nach einer Ecke war dagegen ein deutliches Zeichen für den Willen zum Sieg. So wuchtig ging er zum Ball, so sehr rannte er seine Freude aus sich heraus.
Die Frankfurter waren schockiert. Sie hätten weiterem Druck nicht stand gehalten. Dazu kam es nicht. Der Fußball war nach der Führung wieder zur rationalen Sache geworden. Wenn Fußball nur ein Ergebnissport wäre, hätten wir alle zusammen den Sieg nach dem Schlusspfiff unbändig gefeiert. Doch Emotionen spielen im Fußball eine ebenso große Rolle. Das haben schon die Eheratgeber des Bertelmann Leserings Ende der 50er Jahre gewusst.
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