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Rot-Weiss ist durchweg Essens MSV

Wenn wir im April des kommenden Jahres zum Niederrheinpokal-Halbfinale nach Essen fahren, müssen wir uns erst einmal an der Hafenstraße zurechtfinden. Die Zeit des Übergangs vom Georg-Melches-Stadion zum Stadion Essen habe ich jedenfalls nur von außen mitbekommen. Noch immer bestimmen Bilder von der alten, 1956 erbauten Haupttribüne meine Erinnerungen an die Auswärtsspiele der Zebras bei RWE, dazu eine Gästekurve, in deren Architektur später, etwa bei dem ein und anderen DFB-Pokalspiel in den 1990ern, das oftmals Herbe der zwischenmenschlichen Begegnungen mit den RWE-Anhängern eingegangen war. Im Gegensatz zum Rest des Stadions war die Kurve nicht überdacht.

Als ich Mitte der 1970er Jahre das Georg-Melches-Stadion kennenlernte, waren die 3:0- und 5:2-Niederlagen des MSV für mich schmerzlich, und es tröstet auch nicht im Nachhinein, dass sie als Siege für RWE nur jeweils ein Zwischenhoch waren auf dem Weg in ein so tiefes Tal, das der MSV Duisburg bislang noch nicht hat betreten müssen. Viel mehr sage ich dazu besser nicht. Wenn ich nämlich die Wände um mich herum betrachte, bin ich nicht mehr sicher, ob hinter den Tapeten nicht schon das Mauerwerk großflächig durch Glas ersetzt wurde.

Die 1970er Jahre aber sind für Rot-Weiss wegen einer Häufung von Zwischenhochs mindestens genauso legendär wie sie es für den MSV Duisburg waren. Auch in der Gegenwart gibt es trotz unterschiedlicher Liga-Zugehörigkeit Parallelen.  Rot-Weiss Essen und die an diesem Verein interessierten Menschen schlagen sich mit denselben Fragen herum wie wir in Duisburg. Was ist das Wesen dieses Vereins, der früher sportlich erfolgreicher war als heute? Warum bewegt uns dieser Verein, obwohl wir Realisten sind und unsere Hoffnungen auf das Anküpfen an die besseren Zeiten der Vergangenheit in die unscharfe mittlere Frist verschieben? Hilfreich ist in so einem Fall die Selbstvergewisserung durch den Blick auf die eigenen Wurzeln, auf die eigene Geschichte.

Deshalb entsteht eine Erinnerungsliteratur um solche Fußballvereine wie den MSV Duisburg und Rot-Weiss Essen, die nicht mehr sein will als authentisches Erzählen. Deshalb sind wir so neugierig auf die Stimmen, die von einer anderen Zeit berichten. Sie geben uns Sinn und vielleicht geben sie uns auch viel allgemeiner Heimat, weil unsere Identität mit dem schnellen Wandel der Gegenwart so angreifbar geworden ist. Das war neulich so in Duisburg mit den Erinnerungen von Günter Preuß. Für Rot-Weiss Essen nun lässt Karsten Kiepert in „Rot Weiss Essen – Die 70er – Interviews mit Legenden“ 16 Spieler der 1970er Jahre zu Wort kommen  sowie drei Fans, die damals Jugendliche waren.

Es sind andere Orte und handelnde Personen, doch es sind ähnliche Geschichten, die erzählt werden, ob in Essen, Duisburg, Bochum, Gelsenkirchen oder Dortmund. In den Anekdoten der ehemaligen Spieler aus den 1970ern erleben wir einen Fußball, der trotz seiner Erstklassigkeit dem Sport der unteren Ligen sehr viel mehr ähnelte, als es im Fußball heute der Fall ist. Da wird viel Bier getrunken, um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Platzwarte spielen im Vereinsleben große Rollen. Kneipenbesuche gehören zum selbstverständlichen Alltag dieser Sportler damals. Der irgendwann nicht mehr bespielbare Rasen des Georg-Melches-Stadions ist ein Leitmotiv dieser Anekdoten, weil er RWE Vorteile gegenüber den Gegnern brachte, die so einen tiefen Schlammplatz nicht gewöhnt waren. Es gibt interessante Blicke auf die Kräfteverteilung in Mannschaften, auf unterschiedliche Trainertypen, und wir erhalten verschiedene Antworten auf die Frage, warum RWE nach der guten Hinrunde in der Bundesligasaison 1970/71 doch noch abgestiegen ist. Es ist ein heikles Thema, weil jene Saison durch den Bundesliga-Skandal bestimmt wurde. Schnell entsteht der Eindruck, mit den Antworten ginge es auch darum, sich von diesem Skandal fernzuhalten und den Abstieg zur rein sportlichen Angelegenheit zu machen.

Wenn die Fußballer ihr Verhältnis zu RWE heute bestimmen, so heißt das meist, fehlender Kontakt zum Verein. Auch darin gleicht RWE dem MSV, wo erst in der Zeit nach Walter Hellmich begonnen wurde, wieder an die bedeutenden ehemaligen Spieler zu denken. Bezeichnenderweise trieb diese Besinnung auf die Geschichte des Vereins Andreas Rüttgers voran, dessen Engagement für den MSV Duisburg aus einer innneren Bindung an den Verein heraus geschah. Denn es sind die Fans der Gegenwart, die daran arbeiten die Bedeutung von ehemaligen Spielern für die Geschichte eines Vereins in Erinnerung zu halten. Es kommt mir fast wie eine Gegenbewegung zum Fußball als Medienereignis vor, und es ist mal eine eigene Betrachtung wert, weil der Vorwurf der Gedanken- und Gedächtnislosigkeit an so viele Vereine geht. Das Vergessen ist aber im Vereinssport über die Ligen hinweg normal. Denn es geht um den Verein, um den es ja auch uns Fans geht. Ein interessantes Spannungsfeld zwischen Würdigung und notwendigem Vergessen.

Nicht vergessen darf ich hingegen noch ein paar Worte zu den Fotos im Buch, die zum Teil von den Spielern zur Verfügung gestellt wurden. Fußball ist bei diesen Privatfotos nur das verbindende Randthema. Jugendkultur und Alltag der 1970er werden mit ihnen bebildert. Auch damit gelingt das Eintauchen in die Vergangenheit. Sportfotos aus dem Stadion gibt es natürlich zudem obendrauf. Den Blick auf die Zeit damals runden die drei Interviews mit den Fans ab. Auch in ihnen geht es um unspektuläre Jugend- und Alltagskultur der 1970er Jahre und wie RWE darin einen Platz gefunden hat. Heute 50-60-jährige können sich darin problemlos wiedererkennen, so sie RWE durch den Verein der eigenen Wahl ersetzen.

Heimmannschafts-Worte zum Buch findet ihr beim RWE-Blog Im Schatten der Tribüne.

Karsten Kiepert
Rot-Weiss Essen – Die 70er: Interviews mit Legenden
Agon Verlag, Düsseldorf 2013
216 Seiten
€ 24,90

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