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Halbzeitpausengespräch: Der Gesellschaft auf der Spur beim Wandern mit Jürgen Wiebicke

Regelmäßig lasse ich mich in den Stadtbüchereien von Duisburg oder Köln auf den Zufall ein. Ich gehe durch die Regale, ziehe hier und dort ein Buch heraus, blätter vielleicht noch kurz und nehme es dann manchmal mit. Es gibt auch eine Art geführten Zufall. Dann greife ich zu jenen Büchern, die von den Mitarbeitern der beiden Bibliotheken auf Tischen oder in Regalen augenfällig präsentiert werden. Neulich lag in der Kölner Gesellschafts-Ecke „Zu Fuß durch ein nervöses Land“ von Jürgen Wiebicke aus. Ich kann mich nicht erinnern, dass schon einmal dieses Herumstreifen in der Bücherei und der damit verbundene Zufall der Lektüre dem Inhalt des von mir ausgeliehenen Buches so ähnelte wie dieses Mal.

Im Sommer 2015 ist Jürgen Wiebicke von Köln aus losgewandert. Er ging zuerst Richtung Niederrhein und von dort aus über das Ruhrgebiet nach Ostwestfalen. Auf seinem Weg befanden sich ein paar zuvor festgelegte Ziele, sonst aber überließ er sich dem Zufall der Begegnung. Das waren Menschen direkt auf seinem Weg, auf der Straße, auf Feldern oder an Flüssen. Hervorgerufen wurden sie aber auch durch Örtlichkeiten, die ihm auffielen, waren es Gaststätten, herrschaftliche Anwesen oder etwa ein Privattheater. Immer wieder suchte er das Gespräch und den vorurteilsfreien Austausch. Voller Neugier wollte er erfahren, was all diese Menschen zu erzählen hatten. Manchmal wie bei einem Mönch, bei einer Künstlerin oder an einer Schule ging es um die gegenwärtige Lebensweise und deren Folgen für das sinnhafte Dasein. Es ging um psychische Schwierigkeiten dieser Zeit, um die Schnelligkeit, mir der sich dieses Leben der Gegenwart ununterbrochen verändert.

All diese Gespräche geschahen nicht im wirklichkeitsfernen Debatierraum der Sinnfindung oder Gesellschaftskritik. Durch die Begegnungen erfahren wir immer auch vom konkreten Leben der jeweiligen Menschen, von ihre Berufen und den wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen sie versuchen ihr Leben zu gestalten. Wir erfahren von privatem Glück und Zufriedenheit. So erhält man kurze Einblicke in sehr unterschiedliche Sphären dieser Gesellschaft. Unter welchen industriellen Bedingungen wird am Niederrhein Landwirtschaft betrieben. Wie gelingt es Pädagogen und Sozialarbeitern sozial auffälligen Kindern, Sicherheit für ihr Leben zurück zu geben? Wie kann ein privat betriebenes Musical-Theater am Rand des Ruhrgebiets existieren? Wie hat sich das Arbeiten in der Psychiatrie verändert? Wie sieht der größte Schlachthof Europas von innen aus?

Das Unbehagen an der Gegenwart durchdringt als Generalbass fast alle Gespräche. Jürgen Wiebicke moderiert verschiedene Hörfunksendungen auf WDR 5 und war mir vor allem als Gastgeber für Das philosophische Radio aufgefallen. Seine Radiogespräche über Philosophie hatten für mich immer schon eine sehr lebenspraktische Perspektive. Diese Haltung von ihm findet sich auch im Buch wieder. Sein Blick auf das Erlebte wird eng verwoben mit dem Nachdenken über unsere Gegenwart und das eigene Leben. Da geht es ganz klassisch um die Folgen unseres industriellen Wirtschaftens für die Umwelt und für die Menschen außerhalb der westlichen Hemisphäre. Es geht um den Umgang mit Tieren und welchen Einfluss all das auf Zufriedenheit sowie Lebensglück hat. Unausgesprochen steht oft die Frage im Raum, wie sollen wir angesichts des Wissens um notwendige Veränderungen leben und wie lässt sich der dazu notwendige Gemeinsinn herstellen?

Jürgen Wiebicke stellt Fragen zu den komplexen Themen der Gegenwart, und Antworten sind, wie wir wissen, nicht leicht zu finden. Eine Antwort aber hat Jürgen Wiebicke, die in unterschiedlicher Form immer wiederkehrt. Sie lautet, Verantwortung im eigenen Umfeld übernehmen. Natürlich weiß er um System und Strukturzusammenhänge, doch wenn die Lösung nicht auf den bislang eingeschlagenen Wegen zu finden ist, liegt sie vielleicht woanders. Ohne Gemeinsinn wird nichts gelingen. Also gilt es den Blick dorthin zu werfen, wo Menschen im Kleinen Verantwortung übernehmen und trotz aller Widersprüchlichkeiten andere Wege einschlagen.

„Zu Fuß durch ein nervöses Land“ bietet eine wunderbare Mischung aus Reportage, Gesellschaftskritik und Selbstreflexion. Durch Jürgen Wiebickes Blick auch auf sich selbst wird das eigene Nachdenken beim Lesen ununterbrochen angeregt. Unaufdringlich und zugleich nachdrücklich verweist Jürgen Wiebicke auf die Folgen unserer gegenwärtigen Wirtschaftens und Konsumverhaltens. Der Angst und der Nervosität hält er einen nachdenklichen Optimismus entgegen. Am liebsten möchte ich ihm zurufen, demnächst noch einmal in einer anderen Region dieses Landes loszuwandern. Seinen Blick auf Wirklichkeit und Menschen sowie sein Denken beim Wandern können wir gut gebrauchen.

Zu Fuß durch ein nervöses Land

 

Jürgen Wiebicke: Zu Fuß durch ein nervöses Land. Verlag Kiepenheuer & Witsch 2016.
336 Seiten, geb., 19,99 €.

ISBN: 978-3-462-04950-3

 

 

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Zum Ende der Winterpause: Auch wenn Humor hilft, Leid lässt sich nicht jeden Moment weglachen

Jahrestag! Viele von euch wissen es: So lange ich diesen Blog schreibe, stelle ich zum Ende der Winterpause diesen alten Text von mir online. Er ist zeitlos. In ihm geht es nicht um Fußball. Er ist so viel länger als Texte in diesem Medium Blog normalerweise sind. Dieser Text hat schon vielen Menschen geholfen, und er soll weiter helfen. In dem Text habe ich mir über den Umgang dieser Gesellschaft mit dem Leid von Menschen Gedanken gemacht. Anlass waren eigene Erfahrungen in jener Zeit, in der ich an Krebs erkrankt war. Es gibt mehrere Fassungen dieses Textes, die in unterschiedlichen Zeitungen erschienen sind. Ein Vortrag für die Medizinische Fakultät der Kölner Universität entstand aus den Zeitungstexten. In diesem Jahr stelle ich erneut jene Fassung online, die als erste im August 2000 in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist.

Leid lässt sich nicht weglachen
Die Zumutung Krebs oder das Missverständnis vom positiven Denken

Dieses Mal geschah es wieder einmal überraschend. Obwohl ich seit drei Jahren wieder gesund bin, spülte die kurze Glosse im Feuilleton der Tageszeitung alles für einen Moment hoch; das Leid der Krankheit – meiner Krankheit, Krebs. Der Journalist hatte bemerkt, Elend und Leid zeigten sich in der Öffentlichkeit immer häufiger nur noch als Parodie des Erfolgs. Bettler würden zu Kleinunternehmern; selbst die Erkrankung an Krebs, die Bedrohung durch den Tod würden in der heutigen Zeit zur „Chance“. Der Journalist war über das Motto eines Medizinerkongresses gestolpert. Ich konnte ihn verstehen. Auch mir hat man erklärt, dass ich meiner Erkrankung Gutes abgewinnen müsste. Ich spürte den alten Ärger wieder und die zwiespältigen Gefühle, wenn auf Buchumschlägen der Ratgeberliteratur zum Krebs fröhlich lachende Menschen mit Glatze pure Lebensfreude signalisierten.

Während immer neue Bilder der Vergangenheit aufblitzten, suchte ich nach ersten Sätzen meiner Geschichte. Doch stets stellte sich das Gefühl ein, dieser erste Satz brauche zuvor noch eine Erläuterung. Denn wenn ich von meinen Erfahrungen erzähle, stehe ich wieder auf der Seite der Kranken. Als Kranker aber bin ich vorsichtig geworden. Zu oft wurde ich in Gesprächen enttäuscht und begegnete nur vermeintlicher Offenheit. Mehr und mehr Ungeduld spürte ich mit der Zeit. Der Grund für die Ungeduld mit mir war mein andauerndes Leid. Dieses Leid wurde zur Zumutung.

Da gab es diese Begegnung mit einem Bekannten etwa ein Jahr nach Ende der Therapie. Er freute sich für mich, dass alles vorbei sei. Es war nicht vorbei. Ich litt weiterhin unter Nebenwirkungen der Behandlung, und manchmal gab es auch Momente der Angst. Doch bei ihm spürte ich den Wunsch nach einer anderen Auskunft. Immer drängender sprach er auf mich ein. Er redete und wollte überzeugen. Nicht mein Erleben interessierte ihn, obwohl er gefragt hatte. Er wollte nur davon hören, dass die Zeit, die ich durchlebt hatte, mich weitergebracht hätte. Ich sei gesund. Er sprach von tieferer Erkenntnis. Und man dürfe sich doch nicht nur auf die negativen Momente des Lebens versteifen. So kam ich – nicht zum ersten Mal – in die Lage, gleichsam mein Recht auf Leid zu verteidigen.

Eine groteske Situation. Ich sollte mich dafür rechtfertigen, dass es mir schlecht gegangen war und dass daran erst mal nichts Gutes ist. Wahrscheinlich war das Gespräch von Anfang an ein Missverständnis. Wir redeten aneinander vorbei. Bereits mit seiner ersten Frage hatte er begonnen, von seiner Angst zu sprechen; als könne er durch einen fanatisierten Umgang mit Leid sich selbst retten. Wenn man sich wie er verhielte, so hoffte er, werde alles nicht so schlimm. Und ich erzählte ihm nun, es war trotz allem tatsächlich schlimm gewesen. Und manchmal war es das noch immer. Den Trost brauchte er in dem Moment.

Die Krankheit Krebs steht nicht mehr im Zentrum meines Lebens. Seit drei Jahren bin ich geheilt. Mein Arzt meinte bei der letzten Nachsorgeuntersuchung, die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls sei nunmehr nur noch sehr gering. Ich war an Morbus Hodgkin erkrankt, ein Lymphdrüsenkrebs mit sehr hoher Heilungsrate. In den Zeitungsberichten lese ich, inzwischen liege sie bei 90 Prozent. Damals sprach man von 70 bis 80. Die aufnehmende Ärztin der Uniklinik gab sich optimistisch: es gäbe Mediziner, die zögen die Erkrankung an Morbus Hodgkin einem Herzinfarkt vor. Ich hatte dennoch Angst, sterben zu müssen. Zehn Monate insgesamt dauerten erst Chemo-, dann Strahlentherapie. Alles geschah ambulant. Als ich die Krebsdiagnose erhielt, war ich 34 Jahre. Ich war verheiratet, arbeitete mit Erfolg, und unser Sohn war gerade sechs Monate auf der Welt.

Aus meiner Geschichte lassen sich keine allgemeinen Schlüsse ziehen. Zu verschieden sind die Krebsarten, zu verschieden die Perspektiven der Kranken. Alle aber teilen das Bedürfnis, das durch die Erkrankung hervorgerufene Leid zu bewältigen. Es auszuhalten. Es zu lindern. Ihm etwas entgegenzusetzen. Es zu überwinden. Hier geht es um mehr, als um sprachliche Nuancen ein und desselben Vorgangs. Was sich in diesen unterschiedlichen Begriffen andeutet, sind verschiedene Zustände eines komplexen Prozesses. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit aber richtet sich auf das Überwinden. Dabei wirken Kulturmuster mit, die dem Leid kaum eine Daseinsberechtigung lassen.

„Positives Denken“ heißt das Schlagwort, das die vorherrschende Haltung gegenüber dem Leid charakterisiert. Es ist der weltliche Trost einer Gegenwart ohne Hoffnung auf das Paradies im Jenseits. Der Mensch muss nun auf Erden von seinem Leid erlöst werden, und erleichtert sehen die Gesunden, wie es funktioniert. Kranke finden ihr Heil. Man muss nur „positiv denken“, dann bekommt alles wieder seinen Sinn und Leid wird zum Motiv einer Erfolgsgeschichte. Sicher wird mit diesem Schlagwort auch etwas Wahres beschrieben. Zuversicht und Freude sind Lebensqualität im Jetzt; und die hat positive Wirkung auf das Immunsystem; was wiederum die Bemühung der Ärzte unterstützt.

Doch im verkürzten Gebrauch wird die Wahrheit des positiven Denkens zur Lüge; und kehrt so auch im Reden der Kranken wieder – eine magische Beschwörungsformel, um sich selbst und der Welt zu beweisen, man lasse sich nicht unterkriegen. Als Ausdruck der Hoffnung auf Heilung hat das seine Berechtigung. Doch liegt ein Missverständnis nahe. Denn leicht reduziert sich „positives Denken“ auf ein Sein, in dem Angst, Unsicherheit und Trauer zu etwas werden, was die Heilung verhindert. Der vom Leid des Kranken beunruhigte Gesunde nennt solche Gefühle schnell fehlerhafte, falsche Einstellungen, die der Kranke selbst zu verantworten habe. Dieser könnte anders, wenn er nur wollte. Und dann wäre alles besser.

Druck entsteht, und unversehens verschieben sich die Gewichte. Leid ist nur noch auf abstrakte Weise ein Teil des menschlichen Lebens. Jedes konkrete Erleben von Leid aber erinnert an ein Scheitern. Der noch immer tief in uns wurzelnde Glaube an das Heil durch ständigen Fortschritt wird im Alltag wieder einmal enttäuscht. Nebenbei gesagt, das öffentliche Interesse verlagert sich in solchen Fällen immer wieder aufs Neue in die Zukunft. Und siehe da, heute kündigt die Gentechnik bessere Zeiten an. Für einzelne Menschen mag das stimmen; für die Menschheit nicht. Das Leid wird an anderer Stelle auftauchen.

Ohne Anerkennung des Leids in der Gegenwart bleibt keine Möglichkeit zu wirklichem Trost. Diese Anerkennung geschieht aber nicht, indem man auf abstrakte Weise bejaht, die Erkrankung an Krebs sei ein schreckliches Schicksal, um sich dann ausschließlich den Techniken zur Überwindung dieses Schicksals zuzuwenden. Diese Anerkennung des Leids geschieht nur in der direkten Begegnung mit dem Kranken.

Zu solch einer Begegnung bedarf es Kraft. Man muss Verzweiflung, Ungerechtigkeit, Angst und Trauer aushalten. Man muss es aushalten, dass einem für eine Zeit vielleicht der Sinn des Lebens verloren geht. Man muss es aushalten, nichts machen zu können, außer da zu sein. Ohne Worte, die vorschnell etwas zudecken. Und genau das reicht. Und genau das ist überaus schwer. Wenn meine Frau mit mir zusammen Angst und Trauer ertrug und nicht wegredete, verschwand Verzweiflung in einer grenzenlosen Leere. Sie verwandelte sich nicht in ein glückliches Gefühl, aber ich fand meine Ruhe wieder. So eine Begegnung erfordert gegenseitigen Respekt vor den jeweiligen Grenzen der Kraft. Ihre Voraussetzung ist nicht die vorher schon vorhandene Nähe, sondern eine innere Haltung der Akzeptanz vom Gegenüber.

Dieses Sein ist etwas ganz anderes als das „positive Denken“, dem ich in seiner trivialisierten Form immer mehr begegnete. Je länger die Krankheit andauerte, desto häufiger. Ganz zu schweigen von der Zeit, nachdem die Therapie abgeschlossen war. Von da an gab es in meinem Alltag keine Aktivitäten mehr, die jedem verdeutlichten, dass mein Leben durch die Krankheit Krebs beeinflusst war. Die Therapieroutinen lagen hinter mir, was noch an die Erkrankung erinnerte, war ich selbst. Mein Erzählen holte sie in die Gegenwart. Ich drängte mich niemanden auf, aber da man mich nach meinem Befinden fragte, antwortete ich. Und diese Antworten ertrugen nur noch wenige. Denn anstatt nur vom Glück der Heilung zu reden, redete ich auch davon, wie sich das Vertrauen in meine Gesundheit erst wieder entwickeln musste.

Ich fühlte mich über Monate weiterhin sehr schnell erschöpft. Es gab Krisen, von Angst begleitet, in denen sich Krankheitssymptome einstellten. Mehr als während der Therapie entfernte ich mich innerlich von manchen Menschen. Doch immer wieder ging es mir um das Aufgehobensein mit allen meinen Erfahrungen in der Welt. Es ging um Verstehen. Jede vorschnelle Zuschreibung und Deutung des Leids durch das Gegenüber zerstörte dann die Fäden, die den Leidenden mit dem Nicht-Leidenden verbinden.

Um keinen falschen Eindruck entsehen zu lassen; es gab immer auch Freunde. Ich war eingebunden in ein Netz von Liebe und Zuneigung. Das waren Menschen, die sich mir zuwendeten, ohne zu werten. Zudem half es gerade in dieser Zeit anderen Kranken und Genesenen zu begegnen, von ähnlichen Erfahrungen zu hören und sich nicht ständig erklären zu müssen. Erklärungen, die oft nicht wirklich gehört wurden.

Gerade weil in unserer Gesellschaft die Menschen mit aller Energie daran arbeiten, Leiden zu verhindern, gerät der Leidende selbst oft in die Defensive. Deshalb halte ich auch fröhlich lachende Krebskranke auf einem Buchumschlag der Ratgeberliteratur für einen Missgriff des Verlags. Nicht weil Krebskranke zu sehr leiden, um zu lachen, sondern weil diese lachenden Gesichter mit ihrer Präsenz im öffentlichen Raum helfen, das vorhandene Leid zu verdecken. In diesem Lachen steckt weniger ein Mut machender Appell an die Kranken als ein beruhigender Trost für die Gesunden. Doch sobald ein Gesunder sich vom Leid des Kranken zu sehr bedrängt fühlt, kann sich ein solcher Trost in einen Vorwurf verwandeln. Dann fragt der Gesunde, warum geht es dir nicht so wie denen?

Symptomatisch für das Verdrängen ist auch das Gerede von der „Chance“. Selbstverständlich kann jemand durch die Konfrontation mit dem möglichen Tod zu Einsichten kommen, die ihn sein Leben lebenswerter machen. In einer ausführlichen Lebensgeschichte hat solch eine Deutung der Erkrankung dann ihre Berechtigung. Die Verkürzung zum Motto aber trägt dazu bei, die Gewichte zu verschieben. Zunächst wird das Leid der Erkrankung vielleicht noch mitgedacht. Dann rückt es allmählich aus dem Blick. Chance, das ist Zukunft. Da denkt man nicht mehr an das, was der Chance vorausgeht. Und das ist eine ganz andere Erzählung von der Krankheit. In dieser Erzählung muss man Abschied nehmen von Fähigkeiten, von Träumen und von Zielen. In solcher Erzählung geht es zunächst um Trauer. Das hört man weniger gern, als wenn jemand einen tieferen Sinn in seiner Erkrankung gefunden hat.

Sinn macht Leid erträglich, doch ungeschehen wird es dadurch nicht. Körperliche Schmerzen sind nichts als Schmerzen. Und der Tod beendet tatsächlich ein Leben. Deshalb bleibt Leid im Jetzt, auf das reagiert werden muss. Je weniger leidvoll das gesellschaftliche Bild des Leids aber ist, desto größer wird die Kluft, die den Leidenden von den Menschen um ihn herum trennt. Angehörige, Freunde, Bekannte werden zu Fremden. Der Leidende bleibt unter seinesgleichen oder allein. Da es kaum mehr lebendige kulturelle Formen gibt, die bei der Begegnung von Leidenden und Nicht-Leidenden Halt bieten, muss jeder, auf sich selbst zurückgeworfen, für das Gelingen einer solchen Begegnung einstehen.

Noch einmal: Das ist schwer. Und es ist schwierig, weil diese Begegnungen zweier Wirklichkeiten so empfindlich gegenüber Störungen und Missverständnissen sind. Darum ist das geduldige Bemühen um Verstehen so wichtig. Mir half es auch, wenn mein Rhythmus und mein Tempo geachtet wurden. Es half, wenn jemand in der Orientierungslosigkeit zwar die kleinen Auswege wahrnahm, sie aber nicht erzwingen wollte. Es half, wenn jemand seine eigene Angst erkannte und zu ihr stand. Ich merke, ich beginne, den glücklichen Teil meiner Geschichte zu erzählen. Es gibt ihn – und die Erfahrungen des Leids.

Zum Ende der Winterpause: Auch wenn Humor hilft, Leid lässt sich nicht immer weglachen

Jahrestag! Viele von euch wissen es: So lange ich diesen Blog schreibe, stelle ich zum Ende der Winterpause diesen alten Text von mir online. Er ist zeitlos. In ihm geht es nicht um Fußball. Er ist so viel länger als Texte in diesem Medium Blog normalerweise sind. Dieser Text hat schon vielen Menschen geholfen, und er soll weiter helfen. In dem Text habe ich mir über den Umgang dieser Gesellschaft mit dem Leid von Menschen Gedanken gemacht. Anlass waren eigene Erfahrungen in jener Zeit, in der ich an Krebs erkrankt war. Es gibt mehrere Fassungen dieses Textes, die in unterschiedlichen Zeitungen erschienen sind. Ein Vortrag für die Medizinische Fakultät der Kölner Universität entstand aus den Zeitungstexten. In diesem Jahr stelle ich erneut jene Fassung online, die als erste im August 2000 in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist.

Leid lässt sich nicht weglachen
Die Zumutung Krebs oder das Missverständnis vom positiven Denken

Dieses Mal geschah es wieder einmal überraschend. Obwohl ich seit drei Jahren wieder gesund bin, spülte die kurze Glosse im Feuilleton der Tageszeitung alles für einen Moment hoch; das Leid der Krankheit – meiner Krankheit, Krebs. Der Journalist hatte bemerkt, Elend und Leid zeigten sich in der Öffentlichkeit immer häufiger nur noch als Parodie des Erfolgs. Bettler würden zu Kleinunternehmern; selbst die Erkrankung an Krebs, die Bedrohung durch den Tod würden in der heutigen Zeit zur „Chance“. Der Journalist war über das Motto eines Medizinerkongresses gestolpert. Ich konnte ihn verstehen. Auch mir hat man erklärt, dass ich meiner Erkrankung Gutes abgewinnen müsste. Ich spürte den alten Ärger wieder und die zwiespältigen Gefühle, wenn auf Buchumschlägen der Ratgeberliteratur zum Krebs fröhlich lachende Menschen mit Glatze pure Lebensfreude signalisierten.

Während immer neue Bilder der Vergangenheit aufblitzten, suchte ich nach ersten Sätzen meiner Geschichte. Doch stets stellte sich das Gefühl ein, dieser erste Satz brauche zuvor noch eine Erläuterung. Denn wenn ich von meinen Erfahrungen erzähle, stehe ich wieder auf der Seite der Kranken. Als Kranker aber bin ich vorsichtig geworden. Zu oft wurde ich in Gesprächen enttäuscht und begegnete nur vermeintlicher Offenheit. Mehr und mehr Ungeduld spürte ich mit der Zeit. Der Grund für die Ungeduld mit mir war mein andauerndes Leid. Dieses Leid wurde zur Zumutung.

Da gab es diese Begegnung mit einem Bekannten etwa ein Jahr nach Ende der Therapie. Er freute sich für mich, dass alles vorbei sei. Es war nicht vorbei. Ich litt weiterhin unter Nebenwirkungen der Behandlung, und manchmal gab es auch Momente der Angst. Doch bei ihm spürte ich den Wunsch nach einer anderen Auskunft. Immer drängender sprach er auf mich ein. Er redete und wollte überzeugen. Nicht mein Erleben interessierte ihn, obwohl er gefragt hatte. Er wollte nur davon hören, dass die Zeit, die ich durchlebt hatte, mich weitergebracht hätte. Ich sei gesund. Er sprach von tieferer Erkenntnis. Und man dürfe sich doch nicht nur auf die negativen Momente des Lebens versteifen. So kam ich – nicht zum ersten Mal – in die Lage, gleichsam mein Recht auf Leid zu verteidigen.

Eine groteske Situation. Ich sollte mich dafür rechtfertigen, dass es mir schlecht gegangen war und dass daran erst mal nichts Gutes ist. Wahrscheinlich war das Gespräch von Anfang an ein Missverständnis. Wir redeten aneinander vorbei. Bereits mit seiner ersten Frage hatte er begonnen, von seiner Angst zu sprechen; als könne er durch einen fanatisierten Umgang mit Leid sich selbst retten. Wenn man sich wie er verhielte, so hoffte er, werde alles nicht so schlimm. Und ich erzählte ihm nun, es war trotz allem tatsächlich schlimm gewesen. Und manchmal war es das noch immer. Den Trost brauchte er in dem Moment.

Die Krankheit Krebs steht nicht mehr im Zentrum meines Lebens. Seit drei Jahren bin ich geheilt. Mein Arzt meinte bei der letzten Nachsorgeuntersuchung, die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls sei nunmehr nur noch sehr gering. Ich war an Morbus Hodgkin erkrankt, ein Lymphdrüsenkrebs mit sehr hoher Heilungsrate. In den Zeitungsberichten lese ich, inzwischen liege sie bei 90 Prozent. Damals sprach man von 70 bis 80. Die aufnehmende Ärztin der Uniklinik gab sich optimistisch: es gäbe Mediziner, die zögen die Erkrankung an Morbus Hodgkin einem Herzinfarkt vor. Ich hatte dennoch Angst, sterben zu müssen. Zehn Monate insgesamt dauerten erst Chemo-, dann Strahlentherapie. Alles geschah ambulant. Als ich die Krebsdiagnose erhielt, war ich 34 Jahre. Ich war verheiratet, arbeitete mit Erfolg, und unser Sohn war gerade sechs Monate auf der Welt.

Aus meiner Geschichte lassen sich keine allgemeinen Schlüsse ziehen. Zu verschieden sind die Krebsarten, zu verschieden die Perspektiven der Kranken. Alle aber teilen das Bedürfnis, das durch die Erkrankung hervorgerufene Leid zu bewältigen. Es auszuhalten. Es zu lindern. Ihm etwas entgegenzusetzen. Es zu überwinden. Hier geht es um mehr, als um sprachliche Nuancen ein und desselben Vorgangs. Was sich in diesen unterschiedlichen Begriffen andeutet, sind verschiedene Zustände eines komplexen Prozesses. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit aber richtet sich auf das Überwinden. Dabei wirken Kulturmuster mit, die dem Leid kaum eine Daseinsberechtigung lassen.

„Positives Denken“ heißt das Schlagwort, das die vorherrschende Haltung gegenüber dem Leid charakterisiert. Es ist der weltliche Trost einer Gegenwart ohne Hoffnung auf das Paradies im Jenseits. Der Mensch muss nun auf Erden von seinem Leid erlöst werden, und erleichtert sehen die Gesunden, wie es funktioniert. Kranke finden ihr Heil. Man muss nur „positiv denken“, dann bekommt alles wieder seinen Sinn und Leid wird zum Motiv einer Erfolgsgeschichte. Sicher wird mit diesem Schlagwort auch etwas Wahres beschrieben. Zuversicht und Freude sind Lebensqualität im Jetzt; und die hat positive Wirkung auf das Immunsystem; was wiederum die Bemühung der Ärzte unterstützt.

Doch im verkürzten Gebrauch wird die Wahrheit des positiven Denkens zur Lüge; und kehrt so auch im Reden der Kranken wieder – eine magische Beschwörungsformel, um sich selbst und der Welt zu beweisen, man lasse sich nicht unterkriegen. Als Ausdruck der Hoffnung auf Heilung hat das seine Berechtigung. Doch liegt ein Missverständnis nahe. Denn leicht reduziert sich „positives Denken“ auf ein Sein, in dem Angst, Unsicherheit und Trauer zu etwas werden, was die Heilung verhindert. Der vom Leid des Kranken beunruhigte Gesunde nennt solche Gefühle schnell fehlerhafte, falsche Einstellungen, die der Kranke selbst zu verantworten habe. Dieser könnte anders, wenn er nur wollte. Und dann wäre alles besser.

Druck entsteht, und unversehens verschieben sich die Gewichte. Leid ist nur noch auf abstrakte Weise ein Teil des menschlichen Lebens. Jedes konkrete Erleben von Leid aber erinnert an ein Scheitern. Der noch immer tief in uns wurzelnde Glaube an das Heil durch ständigen Fortschritt wird im Alltag wieder einmal enttäuscht. Nebenbei gesagt, das öffentliche Interesse verlagert sich in solchen Fällen immer wieder aufs Neue in die Zukunft. Und siehe da, heute kündigt die Gentechnik bessere Zeiten an. Für einzelne Menschen mag das stimmen; für die Menschheit nicht. Das Leid wird an anderer Stelle auftauchen.

Ohne Anerkennung des Leids in der Gegenwart bleibt keine Möglichkeit zu wirklichem Trost. Diese Anerkennung geschieht aber nicht, indem man auf abstrakte Weise bejaht, die Erkrankung an Krebs sei ein schreckliches Schicksal, um sich dann ausschließlich den Techniken zur Überwindung dieses Schicksals zuzuwenden. Diese Anerkennung des Leids geschieht nur in der direkten Begegnung mit dem Kranken.

Zu solch einer Begegnung bedarf es Kraft. Man muss Verzweiflung, Ungerechtigkeit, Angst und Trauer aushalten. Man muss es aushalten, dass einem für eine Zeit vielleicht der Sinn des Lebens verloren geht. Man muss es aushalten, nichts machen zu können, außer da zu sein. Ohne Worte, die vorschnell etwas zudecken. Und genau das reicht. Und genau das ist überaus schwer. Wenn meine Frau mit mir zusammen Angst und Trauer ertrug und nicht wegredete, verschwand Verzweiflung in einer grenzenlosen Leere. Sie verwandelte sich nicht in ein glückliches Gefühl, aber ich fand meine Ruhe wieder. So eine Begegnung erfordert gegenseitigen Respekt vor den jeweiligen Grenzen der Kraft. Ihre Voraussetzung ist nicht die vorher schon vorhandene Nähe, sondern eine innere Haltung der Akzeptanz vom Gegenüber.

Dieses Sein ist etwas ganz anderes als das „positive Denken“, dem ich in seiner trivialisierten Form immer mehr begegnete. Je länger die Krankheit andauerte, desto häufiger. Ganz zu schweigen von der Zeit, nachdem die Therapie abgeschlossen war. Von da an gab es in meinem Alltag keine Aktivitäten mehr, die jedem verdeutlichten, dass mein Leben durch die Krankheit Krebs beeinflusst war. Die Therapieroutinen lagen hinter mir, was noch an die Erkrankung erinnerte, war ich selbst. Mein Erzählen holte sie in die Gegenwart. Ich drängte mich niemanden auf, aber da man mich nach meinem Befinden fragte, antwortete ich. Und diese Antworten ertrugen nur noch wenige. Denn anstatt nur vom Glück der Heilung zu reden, redete ich auch davon, wie sich das Vertrauen in meine Gesundheit erst wieder entwickeln musste.

Ich fühlte mich über Monate weiterhin sehr schnell erschöpft. Es gab Krisen, von Angst begleitet, in denen sich Krankheitssymptome einstellten. Mehr als während der Therapie entfernte ich mich innerlich von manchen Menschen. Doch immer wieder ging es mir um das Aufgehobensein mit allen meinen Erfahrungen in der Welt. Es ging um Verstehen. Jede vorschnelle Zuschreibung und Deutung des Leids durch das Gegenüber zerstörte dann die Fäden, die den Leidenden mit dem Nicht-Leidenden verbinden.

Um keinen falschen Eindruck entsehen zu lassen; es gab immer auch Freunde. Ich war eingebunden in ein Netz von Liebe und Zuneigung. Das waren Menschen, die sich mir zuwendeten, ohne zu werten. Zudem half es gerade in dieser Zeit anderen Kranken und Genesenen zu begegnen, von ähnlichen Erfahrungen zu hören und sich nicht ständig erklären zu müssen. Erklärungen, die oft nicht wirklich gehört wurden.

Gerade weil in unserer Gesellschaft die Menschen mit aller Energie daran arbeiten, Leiden zu verhindern, gerät der Leidende selbst oft in die Defensive. Deshalb halte ich auch fröhlich lachende Krebskranke auf einem Buchumschlag der Ratgeberliteratur für einen Missgriff des Verlags. Nicht weil Krebskranke zu sehr leiden, um zu lachen, sondern weil diese lachenden Gesichter mit ihrer Präsenz im öffentlichen Raum helfen, das vorhandene Leid zu verdecken. In diesem Lachen steckt weniger ein Mut machender Appell an die Kranken als ein beruhigender Trost für die Gesunden. Doch sobald ein Gesunder sich vom Leid des Kranken zu sehr bedrängt fühlt, kann sich ein solcher Trost in einen Vorwurf verwandeln. Dann fragt der Gesunde, warum geht es dir nicht so wie denen?

Symptomatisch für das Verdrängen ist auch das Gerede von der „Chance“. Selbstverständlich kann jemand durch die Konfrontation mit dem möglichen Tod zu Einsichten kommen, die ihn sein Leben lebenswerter machen. In einer ausführlichen Lebensgeschichte hat solch eine Deutung der Erkrankung dann ihre Berechtigung. Die Verkürzung zum Motto aber trägt dazu bei, die Gewichte zu verschieben. Zunächst wird das Leid der Erkrankung vielleicht noch mitgedacht. Dann rückt es allmählich aus dem Blick. Chance, das ist Zukunft. Da denkt man nicht mehr an das, was der Chance vorausgeht. Und das ist eine ganz andere Erzählung von der Krankheit. In dieser Erzählung muss man Abschied nehmen von Fähigkeiten, von Träumen und von Zielen. In solcher Erzählung geht es zunächst um Trauer. Das hört man weniger gern, als wenn jemand einen tieferen Sinn in seiner Erkrankung gefunden hat.

Sinn macht Leid erträglich, doch ungeschehen wird es dadurch nicht. Körperliche Schmerzen sind nichts als Schmerzen. Und der Tod beendet tatsächlich ein Leben. Deshalb bleibt Leid im Jetzt, auf das reagiert werden muss. Je weniger leidvoll das gesellschaftliche Bild des Leids aber ist, desto größer wird die Kluft, die den Leidenden von den Menschen um ihn herum trennt. Angehörige, Freunde, Bekannte werden zu Fremden. Der Leidende bleibt unter seinesgleichen oder allein. Da es kaum mehr lebendige kulturelle Formen gibt, die bei der Begegnung von Leidenden und Nicht-Leidenden Halt bieten, muss jeder, auf sich selbst zurückgeworfen, für das Gelingen einer solchen Begegnung einstehen.

Noch einmal: Das ist schwer. Und es ist schwierig, weil diese Begegnungen zweier Wirklichkeiten so empfindlich gegenüber Störungen und Missverständnissen sind. Darum ist das geduldige Bemühen um Verstehen so wichtig. Mir half es auch, wenn mein Rhythmus und mein Tempo geachtet wurden. Es half, wenn jemand in der Orientierungslosigkeit zwar die kleinen Auswege wahrnahm, sie aber nicht erzwingen wollte. Es half, wenn jemand seine eigene Angst erkannte und zu ihr stand. Ich merke, ich beginne, den glücklichen Teil meiner Geschichte zu erzählen. Es gibt ihn – und die Erfahrungen des Leids.

Fundstück: Der Gesellschaftskritiker Hans Meyer

Wenn Hans Meyer, dem früheren Fußballtrainer und jetzigen Vorstandsmitglied von Borussia Mönchengladbach, Fragen gestellt werden, genügen ihm oft keine einfachen Antworten. Einmal mehr ist das zu sehen in der ZEIT dieser Woche bei einem lesenwerten Interview, das Christof Siemes mit Hans Meyer geführt hat. Online steht es noch nicht. In dem Interview beschreibt sich Hans Meyer als Realisten. Gleichzeitig „beneidet“ er Menschen, die aus großen Träumen von der Zukunft ihre Kraft gewinnen.  Was seinen Blick für die sozialen Verhältnisse, in dem solches Träumen geschieht, aber nicht behindert.

ZEIT: Aber tragen Träume einen nicht weiter, als man es ohne je schaffen würde?

Meyer: Genau das bezweifel ich. Das wollen die Journalisten den Spielern und Verantwortlichen einreden. Man muss es nur wollen., dann klappt es. Das ist ein großer Trugschluss der ganzen Gesellschaft. Damit tut man Millionen Menschen unrecht. Weil es suggeriert, dass jeder selbst schuld ist, wenn es ihm beschissen geht. Weil er nicht genug wollte. Aber neben den zehn Prozent Faulpelzen gibt es Millionen, die objektiv keine Chance haben.

 

 

Zum Ende der Winterpause: Auch wenn Humor hilft, Leid lässt sich nicht immer weglachen

Jahrestag! Vor einem Jahre hatte ich es angekündigt. So lange ich diesen Blog schreibe, werde ich zum Ende der Winterpause einen alten Text von mir online stellen. Er ist zeitlos. In ihm geht es nicht um Fußball. Er ist so viel länger als Texte in diesem Medium Blog normalerweise sind. Dieser Text hat schon vielen Menschen geholfen, und er soll weiter helfen. In dem Text habe ich mir über den Umgang dieser Gesellschaft mit dem Leid von Menschen Gedanken gemacht. Anlass waren eigene Erfahrungen in jener Zeit, in der ich an Krebs erkrankt war. Es gibt mehrere Fassungen dieses Textes, die in unterschiedlichen Zeitungen erschienen sind. Ein Vortrag für die Medizinische Fakultät der Kölner Universität entstand aus den Zeitungstexten. In diesem Jahr stelle ich jene Fassung online, die als erste im August 2000 in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist.

Leid lässt sich nicht weglachen
Die Zumutung Krebs oder das Missverständnis vom positiven Denken

Dieses Mal geschah es wieder einmal überraschend. Obwohl ich seit drei Jahren wieder gesund bin, spülte die kurze Glosse im Feuilleton der Tageszeitung alles für einen Moment hoch; das Leid der Krankheit – meiner Krankheit, Krebs. Der Journalist hatte bemerkt, Elend und Leid zeigten sich in der Öffentlichkeit immer häufiger nur noch als Parodie des Erfolgs. Bettler würden zu Kleinunternehmern; selbst die Erkrankung an Krebs, die Bedrohung durch den Tod würden in der heutigen Zeit zur „Chance“. Der Journalist war über das Motto eines Medizinerkongresses gestolpert. Ich konnte ihn verstehen. Auch mir hat man erklärt, dass ich meiner Erkrankung Gutes abgewinnen müsste. Ich spürte den alten Ärger wieder und die zwiespältigen Gefühle, wenn auf Buchumschlägen der Ratgeberliteratur zum Krebs fröhlich lachende Menschen mit Glatze pure Lebensfreude signalisierten.

Während immer neue Bilder der Vergangenheit aufblitzten, suchte ich nach ersten Sätzen meiner Geschichte. Doch stets stellte sich das Gefühl ein, dieser erste Satz brauche zuvor noch eine Erläuterung. Denn wenn ich von meinen Erfahrungen erzähle, stehe ich wieder auf der Seite der Kranken. Als Kranker aber bin ich vorsichtig geworden. Zu oft wurde ich in Gesprächen enttäuscht und begegnete nur vermeintlicher Offenheit. Mehr und mehr Ungeduld spürte ich mit der Zeit. Der Grund für die Ungeduld mit mir war mein andauerndes Leid. Dieses Leid wurde zur Zumutung.

Da gab es diese Begegnung mit einem Bekannten etwa ein Jahr nach Ende der Therapie. Er freute sich für mich, dass alles vorbei sei. Es war nicht vorbei. Ich litt weiterhin unter Nebenwirkungen der Behandlung, und manchmal gab es auch Momente der Angst. Doch bei ihm spürte ich den Wunsch nach einer anderen Auskunft. Immer drängender sprach er auf mich ein. Er redete und wollte überzeugen. Nicht mein Erleben interessierte ihn, obwohl er gefragt hatte. Er wollte nur davon hören, dass die Zeit, die ich durchlebt hatte, mich weitergebracht hätte. Ich sei gesund. Er sprach von tieferer Erkenntnis. Und man dürfe sich doch nicht nur auf die negativen Momente des Lebens versteifen. So kam ich – nicht zum ersten Mal – in die Lage, gleichsam mein Recht auf Leid zu verteidigen.

Eine groteske Situation. Ich sollte mich dafür rechtfertigen, dass es mir schlecht gegangen war und dass daran erst mal nichts Gutes ist. Wahrscheinlich war das Gespräch von Anfang an ein Missverständnis. Wir redeten aneinander vorbei. Bereits mit seiner ersten Frage hatte er begonnen, von seiner Angst zu sprechen; als könne er durch einen fanatisierten Umgang mit Leid sich selbst retten. Wenn man sich wie er verhielte, so hoffte er, werde alles nicht so schlimm. Und ich erzählte ihm nun, es war trotz allem tatsächlich schlimm gewesen. Und manchmal war es das noch immer. Den Trost brauchte er in dem Moment.

Die Krankheit Krebs steht nicht mehr im Zentrum meines Lebens. Seit drei Jahren bin ich geheilt. Mein Arzt meinte bei der letzten Nachsorgeuntersuchung, die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls sei nunmehr nur noch sehr gering. Ich war an Morbus Hodgkin erkrankt, ein Lymphdrüsenkrebs mit sehr hoher Heilungsrate. In den Zeitungsberichten lese ich, inzwischen liege sie bei 90 Prozent. Damals sprach man von 70 bis 80. Die aufnehmende Ärztin der Uniklinik gab sich optimistisch: es gäbe Mediziner, die zögen die Erkrankung an Morbus Hodgkin einem Herzinfarkt vor. Ich hatte dennoch Angst, sterben zu müssen. Zehn Monate insgesamt dauerten erst Chemo-, dann Strahlentherapie. Alles geschah ambulant. Als ich die Krebsdiagnose erhielt, war ich 34 Jahre. Ich war verheiratet, arbeitete mit Erfolg, und unser Sohn war gerade sechs Monate auf der Welt.

Aus meiner Geschichte lassen sich keine allgemeinen Schlüsse ziehen. Zu verschieden sind die Krebsarten, zu verschieden die Perspektiven der Kranken. Alle aber teilen das Bedürfnis, das durch die Erkrankung hervorgerufene Leid zu bewältigen. Es auszuhalten. Es zu lindern. Ihm etwas entgegenzusetzen. Es zu überwinden. Hier geht es um mehr, als um sprachliche Nuancen ein und desselben Vorgangs. Was sich in diesen unterschiedlichen Begriffen andeutet, sind verschiedene Zustände eines komplexen Prozesses. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit aber richtet sich auf das Überwinden. Dabei wirken Kulturmuster mit, die dem Leid kaum eine Daseinsberechtigung lassen.

„Positives Denken“ heißt das Schlagwort, das die vorherrschende Haltung gegenüber dem Leid charakterisiert. Es ist der weltliche Trost einer Gegenwart ohne Hoffnung auf das Paradies im Jenseits. Der Mensch muss nun auf Erden von seinem Leid erlöst werden, und erleichtert sehen die Gesunden, wie es funktioniert. Kranke finden ihr Heil. Man muss nur „positiv denken“, dann bekommt alles wieder seinen Sinn und Leid wird zum Motiv einer Erfolgsgeschichte. Sicher wird mit diesem Schlagwort auch etwas Wahres beschrieben. Zuversicht und Freude sind Lebensqualität im Jetzt; und die hat positive Wirkung auf das Immunsystem; was wiederum die Bemühung der Ärzte unterstützt.

Doch im verkürzten Gebrauch wird die Wahrheit des positiven Denkens zur Lüge; und kehrt so auch im Reden der Kranken wieder – eine magische Beschwörungsformel, um sich selbst und der Welt zu beweisen, man lasse sich nicht unterkriegen. Als Ausdruck der Hoffnung auf Heilung hat das seine Berechtigung. Doch liegt ein Missverständnis nahe. Denn leicht reduziert sich „positives Denken“ auf ein Sein, in dem Angst, Unsicherheit und Trauer zu etwas werden, was die Heilung verhindert. Der vom Leid des Kranken beunruhigte Gesunde nennt solche Gefühle schnell fehlerhafte, falsche Einstellungen, die der Kranke selbst zu verantworten habe. Dieser könnte anders, wenn er nur wollte. Und dann wäre alles besser.

Druck entsteht, und unversehens verschieben sich die Gewichte. Leid ist nur noch auf abstrakte Weise ein Teil des menschlichen Lebens. Jedes konkrete Erleben von Leid aber erinnert an ein Scheitern. Der noch immer tief in uns wurzelnde Glaube an das Heil durch ständigen Fortschritt wird im Alltag wieder einmal enttäuscht. Nebenbei gesagt, das öffentliche Interesse verlagert sich in solchen Fällen immer wieder aufs Neue in die Zukunft. Und siehe da, heute kündigt die Gentechnik bessere Zeiten an. Für einzelne Menschen mag das stimmen; für die Menschheit nicht. Das Leid wird an anderer Stelle auftauchen.

Ohne Anerkennung des Leids in der Gegenwart bleibt keine Möglichkeit zu wirklichem Trost. Diese Anerkennung geschieht aber nicht, indem man auf abstrakte Weise bejaht, die Erkrankung an Krebs sei ein schreckliches Schicksal, um sich dann ausschließlich den Techniken zur Überwindung dieses Schicksals zuzuwenden. Diese Anerkennung des Leids geschieht nur in der direkten Begegnung mit dem Kranken.

Zu solch einer Begegnung bedarf es Kraft. Man muss Verzweiflung, Ungerechtigkeit, Angst und Trauer aushalten. Man muss es aushalten, dass einem für eine Zeit vielleicht der Sinn des Lebens verloren geht. Man muss es aushalten, nichts machen zu können, außer da zu sein. Ohne Worte, die vorschnell etwas zudecken. Und genau das reicht. Und genau das ist überaus schwer. Wenn meine Frau mit mir zusammen Angst und Trauer ertrug und nicht wegredete, verschwand Verzweiflung in einer grenzenlosen Leere. Sie verwandelte sich nicht in ein glückliches Gefühl, aber ich fand meine Ruhe wieder. So eine Begegnung erfordert gegenseitigen Respekt vor den jeweiligen Grenzen der Kraft. Ihre Voraussetzung ist nicht die vorher schon vorhandene Nähe, sondern innere Haltung der Akzeptanz vom Gegenüber.

Dieses Sein ist etwas ganz anderes als das „positive Denken“, dem ich in seiner trivialisierten Form immer mehr begegnete. Je länger die Krankheit andauerte, desto häufiger. Ganz zu schweigen von der Zeit, nachdem die Therapie abgeschlossen war. Von da an gab es in meinem Alltag keine Aktivitäten mehr, die jedem verdeutlichten, dass mein Leben durch die Krankheit Krebs beeinflusst war. Die Therapieroutinen lagen hinter mir, was noch an die Erkrankung erinnerte, war ich selbst. Mein Erzählen holte sie in die Gegenwart. Ich drängte mich niemanden auf, aber da man mich nach meinem Befinden fragte, antwortete ich. Und diese Antworten ertrugen nur noch wenige. Denn anstatt nur vom Glück der Heilung zu reden, redete ich auch davon, wie sich das Vertrauen in meine Gesundheit erst wieder entwickeln musste.

Ich fühlte mich über Monate weiterhin sehr schnell erschöpft. Es gab Krisen, von Angst begleitet, in denen sich Krankheitssymptome einstellten. Mehr als während der Therapie entfernte ich mich innerlich von manchen Menschen. Doch immer wieder ging es mir um das Aufgehobensein mit allen meinen Erfahrungen in der Welt. Es ging um Verstehen. Jede vorschnelle Zuschreibung und Deutung des Leids durch das Gegenüber zerstörte dann die Fäden, die den Leidenden mit dem Nicht-Leidenden verbinden.

Um keinen falschen Eindruck entsehen zu lassen; es gab immer auch Freunde. Ich war eingebunden in ein Netz von Liebe und Zuneigung. Das waren Menschen, die sich mir zuwendeten, ohne zu werten. Zudem half es gerade in dieser Zeit anderen Kranken und Genesenen zu begegnen, von ähnlichen Erfahrungen zu hören und sich nicht ständig erklären zu müssen. Erklärungen, die oft nicht wirklich gehört wurden.

Gerade weil in unserer Gesellschaft die Menschen mit aller Energie daran arbeiten, Leiden zu verhindern, gerät der Leidende oft selbst oft in die Defensive. Deshalb halte ich auch fröhlich lachende Krebskranke auf einem Buchumschlag der Ratgeberliteratur für einen Missgriff des Verlags. Nicht weil Krebskranke zu sehr leiden, um zu lachen, sondern weil diese lachenden Gesichter mit ihrer Präsenz im öffentlichen Raum helfen, das vorhandene Leid zu verdecken. In diesem Lachen steckt weniger ein Mut machender Appell an die Kranken, als ein beruhigender Trost für die Gesunden. Doch sobald ein Gesunder sich vom Leid des Kranken zu sehr bedrängt fühlt, kann sich ein solcher Trost in einen Vorwurf verwandeln. Dann fragt der Gesunde, warum geht es dir nicht so wie denen?

Symptomatisch für das Verdrängen ist auch das Gerede von der „Chance“. Selbstverständlich kann jemand durch die Konfrontation mit dem möglichen Tod zu Einsichten kommen, die ihn sein Leben lebenswerter machen. In einer ausführlichen Lebensgeschichte hat solch eine Deutung der Erkrankung dann ihre Berechtigung. Die Verkürzung zum Motto aber trägt dazu bei, die Gewichte zu verschieben. Zunächst wird das Leid der Erkrankung vielleicht noch mitgedacht. Dann rückt es allmählich aus dem Blick. Chance, das ist Zukunft. Da denkt man nicht mehr an das, was der Chance vorausgeht. Und das ist eine ganz andere Erzählung von der Krankheit. In dieser Erzählung muss man Abschied nehmen von Fähigkeiten, von Träumen und von Zielen. In solcher Erzählung geht es zunächst um Trauer. Das hört man weniger gern, als wenn jemand einen tieferen Sinn in seiner Erkrankung gefunden hat.

Sinn macht Leid erträglich, doch ungeschehen wird es dadurch nicht. Körperliche Schmerzen sind nichts als Schmerzen. Und der Tod beendet tatsächlich ein Leben. Deshalb bleibt Leid im Jetzt, auf das reagiert werden muss. Je weniger leidvoll das gesellschaftliche Bild des Leids aber ist, desto größer wird die Kluft, die den Leidenden von den Menschen um ihn herum trennt. Angehörige, Freunde, Bekannte werden zu Fremden. Der Leidende bleibt unter seinesgleichen oder allein. Da es kaum mehr lebendige kulturelle Formen gibt, die bei der Begegnung von Leidenden und Nicht-Leidenden Halt bieten, muss jeder, auf sich selbst zurückgeworfen, für das Gelingen einer solchen Begegnung einstehen.

Noch einmal: Das ist schwer. Und es ist schwierig, weil diese Begegnungen zweier Wirklichkeiten so empfindlich gegenüber Störungen und Missverständnissen sind. Darum ist das geduldige Bemühen um Verstehen so wichtig. Mir half es auch, wenn mein Rhythmus und mein Tempo geachtet wurden. Es half, wenn jemand in der Orientierungslosigkeit zwar die kleinen Auswege wahrnahm, sie aber nicht erzwingen wollte. Es half, wenn jemand seine eigene Angst erkannte und zu ihr stand. Ich merke, ich beginne, den glücklichen Teil meiner Geschichte zu erzählen. Es gibt ihn – und die Erfahrungen des Leids.

Zum Ende der Winterpause: Leid lässt sich nicht immer weglachen

Ich möchte heute einen alten Text von mir hier online stellen. Er ist zeitlos. In ihm geht es nicht um Fußball. Er ist so viel länger als Texte in diesem Medium Blog normalerweise sind. Aber er ist mir wichtig. Immer noch. In diesem  Text habe ich mir über den Umgang dieser Gesellschaft mit dem Leid Gedanken gemacht. Anlass waren die eigenen Erfahrungen in der Zeit, in der ich an Krebs erkrankt war. Die erste Fassung dieses Textes erschien in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 19./20. August 2000. Die Resonanz war groß, und ich erhielt die Einladung zu einem Vortrag an der Medizinischen Fakultät der Kölner Universität. Für diesen Vortrag im selben Jahr habe ich den Text erweitert. Vier Jahre später kam es zur letzten und endgültigen Überarbeitung, deren Fassung gleich hier zu lesen ist und die in sehr gekürzter Form in der Stuttgarter Zeitung am 15. Januar 2005 erschien. Hier steht nun auch jedes Wort, das in den Zeitungen damals keinen Platz fand. Und weil ich weiß, dass viele Menschen diesen Text als hilfreich empfanden, werde ich ihn nun hier im Blog an einer so anderen Stelle jährlich wieder veröffentlichen.

Leid lässt sich nicht immer weglachen

Eine lebensbedrohliche Erkrankung ist eine leidvolle Erfahrung. Auf diese allgemein gehaltene Wahrheit können sich die meisten Menschen ohne Probleme einigen. Doch die persönliche Geschichte hinter der formelhaften Übereinkunft ruft häufig Widerstände hervor. Erst dann nämlich beginnt die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit um die angemessene Erzählung von einem Geschehen, das bei gesunden Menschen Ängste weckt –  Ängste, die bezwungen werden müssen.

Vor allem nach dem Ende meiner Krebstherapie, im Niemandsland zwischen Krankheit und Gesundheit, merkte ich, wie die Frage nach meinem Befinden häufig noch einen anderen Grund hatte als den der Anteilnahme. Denn ich begegnete Menschen, die bereits sicher wussten, was sie eigentlich erst von mir erfahren wollten. Meine Antworten passten nicht zu ihren Erwartungen, und ich spürte die Ungeduld mit mir. Der Grund für diese Ungeduld war mein andauerndes Leid. Anscheinend war dieses Leid zu einer Zumutung geworden.

Heute, lange nach dieser Zeit, steht die Krankheit Krebs nicht mehr im Zentrum meines Lebens. Ich bin wieder gesund. Erkrankt war ich an Morbus Hodgkin, einem Lymphdrüsenkrebs mit sehr hoher Heilungsrate. Inzwischen liegt sie bei 90 Prozent, lese ich. Damals sprach man von 70 bis 80 Prozent. Die aufnehmende Ärztin der Uniklinik gab sich optimistisch. Es gäbe Mediziner, die zögen die Erkrankung an Morbus Hodgkin einem Herzinfarkt vor. Ich hatte dennoch Angst, sterben zu müssen. Zehn Monate insgesamt dauer­ten erst Chemo- dann Strahlentherapie. Alles ge­schah ambulant. Als ich die Krebsdia­gnose erhielt war ich 34 Jahre alt. Ich war verheiratet, arbeitete mit Er­folg und unser Sohn war gerade sechs Monate auf der Welt.

Solche Fakten brauchte ich als Kranker zur Orientierung, wenn man mir vom Schicksal anderer Krebskranker erzählte. Zu verschieden sind die Krebsarten, zu unterschiedlich sind Behandlungsmethoden, die Chancen auf Heilung und damit die Perspektiven der Erkrankten. Alle aber teilen das Bedürfnis, das durch die Krankheit hervorgerufene Leid zu bewältigen. Es auszuhalten. Es zu lindern. Ihm etwas entgegenzuset­zen. Es zu überwinden. Hier geht es um mehr als um sprachliche Nuancen ein und desselben Vorgangs. Was sich in diesen unterschiedlichen Begriffen an­deutet, sind verschiedene Zustände eines komplexen Prozesses. Die Aufmerksam­keit der Öffentlichkeit aber richtet sich auf das Überwinden. Dabei wirken Kulturmuster mit, die dem Leid selbst kaum eine Daseinsbe­rechti­gung lassen.

Das Positive Denken

“Positives Denken” heißt das Schlagwort, das die vorherrschende Haltung gegenüber dem Leid charakterisiert. Es ist der weltliche Trost einer Gegen­wart ohne Hoffnung auf das Paradies im Jen­seits. Der Mensch muss nun auf Erden von seinem Leid erlöst werden, und erleichtert sehen die Gesunden wie es funktioniert. Kranke finden ihr Heil. Man muss nur “positiv denken”, dann bekommt alles wieder seinen Sinn, und Leid wird zum Motiv einer Erfolgsgeschichte. Nur, das Leid als Zustand hat in dieser Welt der neuen Glaubensformen keinen Platz mehr. In dieser Welt mit ihren Bibeln, den Ratgebern, gibt es nur solche Menschen, die bereits auf dem Weg zu dem anderen, dem vollkommenen Leben sind. Verloren aber sind alle, die zweifeln.

In den alten Glaubensgemeinschaften unserer Kirchen wird man wenigstens dafür so schnell nicht verdammt. Dort kennt man auch Menschen wie Hiob, die im Leid untröstlich sind und ihren Gott anklagen. Dort hält man es aus, dass Menschen verzweifeln. Die modernen Glaubensgemeinschaften sind ungnädiger. Denn “denke positiv” heißt auch: du kannst dich dazu entscheiden. Man soll seine Gefühle zu einer rationalen Sache machen. Und wer entscheiden kann, muss auch die Folgen seiner Entscheidung tragen. Unversehens ist einer selbst schuld, wenn er leidet. So machen die Prediger des “positiven Denkens” den Nicht-Leidenden frei von allem Leid, das er an dem Kranken wahrnimmt. Der Gesunde rettet sein Seelenheil und den Glauben an die eigene Unsterblichkeit. Allerdings nur fürs erste. Denn “jede Gesundheit ist gemeinhin tödlich, wenn sie lange anhält, etwa 70, 80 Jahre.” In diesem Fall hat das Jean Paul vor etwa 200 Jahren gesagt, und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Sicher beschreibt das “positive Denken” auch etwas Wahres. Zuversicht und Freude sind Lebensqualität im Jetzt und die wirkt auf das Immunsystem des Menschen. Ob allerdings diese Einstellung die Chance zur Heilung beeinflusst, weiß man schon nicht mehr so genau. So hat 2002 eine Forschergruppe aus Schottland und Kanada die Ergebnisse von 26 Studien zum Umgangsstil mit Krebserkrankungen verglichen. Ob jemand depressiv war, die Krankheit verdrängte oder sich aktiv mit ihr auseinandersetzte, ein eindeutiger Zusammenhang mit der Überlebenswahrscheinlichkeit konnte nicht festgestellt werden. Vor allem aber gibt es keine Studie, die einen Rückschluss darauf zulässt, ob eine Einstellungsänderung für den Heilungsverlauf Folgen hat. Ganz davon abgesehen, dass während einer lebensbedrohlichen Krise Menschen ohnehin nur begrenzt in ihrem Verhalten beeinflussbar sind.

So hängt alles am Glauben. Und der hat zum einen etwas mit der Persönlichkeit zu tun, zum zweiten aber ist er nicht ganz frei vom Zeitgeist. Auch ich hatte bald nach der Diagnose diffuse Vorstellungen darüber, wie positive Energien zur Heilung beitragen könnten. Und ich war dankbar für Literatur, in der ich meine Vermutungen bestätigt sah. Als ich das Buch des amerikanischen Onkologen Carl Simonton “Wieder gesund werden” in die Hand bekam, empfand ich seine Sätze als Befreiung. Nun war ich nicht mehr nur darauf angewiesen, dass mit mir eine Therapie vollzogen wurde. Ich fühlte mich der Erkrankung nicht mehr so ausgeliefert und gewann meine Selbstbestimmung zurück.

Simonton ist der Überzeugung, die Einstellung des Erkrankten trägt zu dessen Heilung bei. Deshalb zeigt er, wie man die Therapien der Schulmedizin ergänzen kann, um die psychische Kraft zu stärken. Ich las von positiven und negativen Energien, von Visualisierungen und Entspannungsübungen und den möglichen psychischen Ursachen der Erkrankung. Simonton gibt der Erkrankung einen Sinn. Doch an diesem theoretischen Überbau habe ich mich mehr und mehr gerieben. Simonton geht so weit, das Rezidiv einer Patientin damit zu erklären, dass sie in ihrem Leben zu viele negative Energien zugelassen hat. Man sieht, sein Glaube an die Selbstheilungskräfte der Erkrankten besitzt eine Kehrseite.

Aus der Perspektive der Toten hört sich das so an, als hätten sie versagt. Aber haben etwa alle Krebstoten ihre Chance verpasst? Haben alle diese Toten mit den unterschiedlichsten Persönlichkeiten ihre Selbstheilungskräfte nicht genügend aktiviert, weil sie negative Energien nicht aus ihrem Leben verbannt haben? So einfach kann es bei dem komplexen Entstehungszusammenhang von Krebs wohl nicht sein. Diese Art Erklärungen wirken aber in der Öffentlichkeit und rufen dort schlagwortartige Rezepte zur Krankheitsbewältigung hervor. Jede Wahrheit des “positiven Denkens” wird in diesen Rezepten zur Lüge.

Für die Kranken hat das “positive Denken” als Ausdruck ihrer Hoffnung auf Heilung immer seine Berechtigung. Gleich einer magischen Beschwörungsformel kann es genutzt werden, um sich selbst und der Welt zu beweisen, man lässt sich nicht unterkriegen. Auch ich war voller Zuversicht. Dennoch wurde ich manchmal unsicher. Ich bekam Angst. Hatte ich deshalb nicht positiv genug gedacht? Wie positiv muss man denken, dass man es nicht traurig findet, seinen Sohn womöglich nicht aufwachsen zu sehen? Ein Missverständnis liegt eben nahe, wenn die Haltung zu den eigenen Erfahrungen kein Wert an sich ist, sondern etwas bezweckt. Leicht reduziert sich dann das “positive Denken” auf ein Sein, in dem Angst, Unsicherheit und Trauer zu etwas werden, was die Heilung verhindert.

Der vom Leid des Kranken beunruhigte Gesunde nennt solche Gefühle schnell fehlerhafte, falsche Einstellungen, die der Kranke selbst zu verantworten hat. Der Kranke könnte anders, wenn er nur wollte. Und dann wäre alles besser. Druck entsteht, und unversehens verschieben sich die Gewichte. Schon ist Leid nur noch auf eine ab­strakte Weise ein Teil des menschlichen Le­bens. Jedes konkrete Erleben von Leid aber erinnert an ein Scheitern. Der immer noch tief in uns wurzelnde Glaube an das Heil durch ständigen Fortschritt wird im Alltag wieder einmal enttäuscht. So eine Enttäuschung will jeder schnell vergessen, was für den Gesunden heute ganz einfach ist. Wenn er will, sieht er im öffentlichen Raum, es gibt genügend kranke Menschen, die scheinbar nur mit Mut und Zuversicht ihre Krankheit bewältigen. Sie können sich richtig entscheiden. Man liest von ihnen oder man sieht Porträts im Fernsehen. Die Kranken versichern, sie gingen die Dinge ganz positiv an, und nur so könnte man das Leben, so ein Leben, wie sie es haben, überhaupt leben. Doch solche Erfahrungsberichte sind bearbeitetes Leid. Die Dinge sind gewichtet. Es geht nicht unbedingt um die ganze Wahrheit einer Lebenslage. Häufig geht es vor allem darum, Mut zu machen.

Außerdem darf man die Auswirkungen von Zuschauerquoten und Verkaufszahlen nicht übersehen. Denn Deutungsmuster einer Krankheit gelangen desto eher in die Öffentlichkeit, desto spannender sie zu erzählen sind. Sie folgen etwa dem dramaturgischen Muster vom erfolgreichen Kampf gegen eine scheinbare Übermacht, in diesem Fall der Krankheit. Da wird um etwas gerungen und man muss eine entsprechende Einstellung haben, um den Kampf zu bewältigen. Ein anderes beliebtes Muster ist das der Verwandlung. Die Krankheit macht einen anderen Menschen aus dem Helden, natürlich einen besseren Menschen. Solche Geschichten fesseln mehr als jene, in denen Kranke vorwiegend depressiv sind oder annehmende Haltungen einnehmen. Auf diese Weise verfestigen sich aber auch die Heilserwartungen bei bestimmten Umgangsformen mit Leid.

Der einzelne Erfahrungsbericht bestimmt die Perspektive, mit der die Grenzerfahrung Krebserkrankung, das Vielschichtige und Gleichzeitige dabei in das Nacheinander des Erzählens gebracht wird. Das eine Erleben wird in den Vordergrund gerückt, ein anderes wird vernachlässigt. In solchen Erfolgsgeschichten wird das Leid zu einem Motiv, das dem glücklichen Ende untergeordnet sein kann. Nicht viel erinnert dann mehr an das Jetzt des Leids, an den Augenblick, in dem das Leid erfahren wird und noch nicht Sprache ist. Dieses Leid hat aber eine andere Qualität als das Leid, von dem ich schon erzählen kann.

Wenn den Gesunden das Leid der Gegenwart zu nahe kommt, kann auch der Blick in die Zukunft beruhigend sein. Ob Gentechnik in der Biomedizin, ob Nanotechnik als Voraussetzung für kleinstes Instrumentarium, das in den Gefäßen reparierend eingesetzt werden kann. Die großen, Angst erregenden Todesursachen Krebs und Herzkreislauferkrankungen werden besser besiegt werden können, heißt es, und das nicht nur in der auflagenstarken Boulevardpresse. Einzelne Menschen werden dann weniger leiden; die Menschheit sicher nicht. Und da rede ich nicht von den ökonomischen Einschränkungen dieses Heils, das im öffentlichen Bewusstsein aber allen zukommen soll. All dieses Starren auf den  Fortschritt geschieht in der insgeheimen Hoffnung, dem Tod doch irgendwie entkommen zu können.

Wenn man aber nur auf diese Zukunft  schaut, wird das Leid der Gegenwart zu etwas, was an die eigene Unvollkommenheit erinnert. Es erinnert daran, dass es mit dem ewigen Leben auf der Erde noch immer nicht ganz so weit ist. Ohne Anerkennung des Leids in dieser Ge­genwart bleibt aber keine Möglichkeit zu Trost. Der Mensch als Leidender ist dann im Alltag unserer Gesellschaft nicht mehr aufgehoben.

Für mich geschieht die Anerkennung meines Leids nicht, indem jemand auf ab­strakte Weise bejaht, die Erkrankung an Krebs ist ein schreckliches Schicksal, um sich dann ausschließlich den Techni­ken zur Überwindung dieses Schicksals zuzuwenden. Diese Anerkennung des Leids geschieht nur in der direkten Be­gegnung mit mir, dem Kranken. Ich verlange nicht, dass man diese Begegnung suchen muss. Mir geht es darum zu beschreiben, was mir geholfen hat und wie Begegnungen mit Gesunden gelingen konnten. Zu solcher Begegnung mit einem Leidenden bedarf es Kraft. Man muss Verzweiflung, Unge­rechtig­keit, Angst und Trauer aushalten. Man muss es aushalten, dass einem für eine Zeit vielleicht der Sinn des Lebens ver­loren geht. Man muss es aushalten, nichts machen zu können, außer da zu sein. Ohne Worte, die vorschnell etwas zudecken. Und genau das reicht. Und genau das ist überaus schwer.

Wenn meine Frau mit mir zusammen Angst und Trauer ertrug und sie nicht wegre­dete, verschwand meine Verzweiflung in einer grenzenlosen Leere. Sie verwandelte sich nicht in ein glückliches Gefühl, aber ich fand meine Ruhe wieder. So eine  Begegnung erfordert gegenseitigen Re­spekt vor den jeweiligen Grenzen der Kraft. Es bedarf des Respekts vor dem jeweiligen Versuch die Krise zu bewältigen. Es bedarf des Respekts vor der Art und Weise, wie jemand mit der Möglichkeit seines eigenen Todes umgeht. Die Voraussetzung einer gelingenden Begegnung  ist nicht die vorher schon vorhandene Nähe, sondern eine innere Haltung der Akzeptanz vom Gegenüber. Es gab solche Begegnungen nicht nur mit meiner Frau.

Die Ärzte

Wenn an dieser Stelle von den Begegnungen die Rede ist, die mein Leid gelindert haben, sei mir ein Exkurs gestattet. Die Behandlungsräume der Ärzte sind jene Orte, wo das Leid der Patienten an seiner Wurzel gepackt wird. Die Krankheit soll besiegt werden. Doch die Begegnung mit der besonderen Struktur der Universitätsklinik und ihrer Organisation von Behandlung bot wenig Raum, um mein unspezifisch empfundenes Leid  aufzufangen. Der arbeitsteilige Behandlungsverlauf, die räumliche Ausstattung der Klinik und die Zahl der Patienten im Verhältnis zu den Ärzten führten zu einer Art sekundärem Krankheitsverlust, wenn man analog zu dem bekannten Krankheitsgewinn einen Begriff benutzen möchte. Es kostete Kraft, die Fassung zu bewahren.

Doch mit konkreten Sorgen wurde ich immer ernst genommen. Sie blieben nie bedeutungslos. Ich lernte, in der Klinik erhalte ich für die psychische Bewältigung der Krankheit eine Unterstützung, deren Quelle die schulmedizinische Deutung meiner Erkrankung ist. War ich wegen der Symptome meines Körpers besorgt, konnte ich jederzeit nachfragen, welche Bedeutung sie hatten. Ich rief spätnachmittags meinen Arzt an und geduldig beruhigte er mich. Den Ärzten war es also nicht egal, wie ich mich fühlte. In ihrer Wirklichkeit brauchten sie meistens nur einen konkreten Anlass, um zu reagieren. Dann wurde deutlich, ich war für sie nicht der Morbus Hodgin, sondern ein Mensch, der an Morbus Hodgin erkrankt war.

Allerdings war die Chance der Ärzte auch groß, bei meiner Behandlung erfolgreich zu sein. Wenn sie keine Möglichkeiten der Therapie mehr sehen, wird es in ihrer Wirklichkeit schwieriger, das Leid des Patienten zu mildern. Dann kann es dazu kommen, dass sie keine Zeit mehr für ihren Patienten haben, wenn es etwa um die Mitteilung schlechter Befunde geht. Gleichzeitig aber unterhalten sie sich vor der Zimmertür des Patienten ausführlich über ihre nächsten Urlaubsziele. Von solchen enttäuschenden Erfahrungen wurde mir erzählt. Und natürlich vergrößern sie das Leid.

Angesichts solcher Erlebnisse muss man die Selbstverständlichkeit wahrscheinlich immer wieder sagen, Vertrauen ist die Grundlage der Beziehung von Arzt und Patient. Zwar besitzen Ärzte, besonders an einer Universitätsklinik, einen Vertrauensvorschuss, der sich auf ihre fachliche Kompetenz bezieht; damit sich dann aber das Vertrauen in der Gegenwart der Begegnung einstellt, muss das Gespräch zwischen Arzt und Patient gelingen. Der Kranke braucht das Gefühl, mein Arzt hört, was ich sage. Er fällt sein Urteil erst, wenn ich mein Problem vollständig beschrieben habe, in Worten, die meinem Empfinden am nächsten kommen. Selbst wenn er nach meinen ersten Sätzen bereits sein Urteil sicher weiß, so muss er sich am Anfang der Beziehung meine Eindrücke insgesamt anhören. Woher soll ich als Patient wissen, dass ich ihm genügend Informationen für sein Urteil gegeben habe? Als Patient muss ich erst lernen, wieviel Informationen mein Arzt braucht, um ein treffendes Urteil zu fällen. Dieses Wissen um eine vertrauensvolle Beziehung lindert Leid. Es ist nicht abhängig von den Heilungschancen des Patienten. Es ist abhängig von der Fähigkeit des Arztes zum Gespräch und von seiner Bereitschaft seinen Patienten in dessen Weg durch oder mit der Krankheit zu respektieren. Dann wächst eine vertrauensvolle Beziehung, die auch Kollegengespräche über das Leben ermöglicht, während sich der Patient mit seinem nahenden Tod auseinandersetzt.

Selbstverständlich ist der Patient nicht ohne Verantwortung für das Gelingen der Beziehung. Quasi-religiöse Heilserwartungen kann ein Arzt letztlich nur enttäuschen. Dennoch bestimmt der Arzt die Grundlagen der Beziehung und trägt somit den größeren Teil der Verantwortung für deren Gelingen. Wenn ich als Patient mein Vertrauen gegen Verhaltensweisen entwickeln muss, die selbst in normalen Beziehungen zu Schwierigkeiten führen würden, brauche ich besondere soziale Fertigkeiten. Ständig suche ich dann die Balance zwischen der notwendigen Distanz, die meine Seele vor dem Handeln des Arztes schützt und der Nähe, die für das Vertrauen notwendig ist. Vertrauen, das vielleicht für den Heilungsverlauf und sicher für die Lebensqualität bedeutsam ist.

Einem mich behandelnden Arzt etwa begegnete ich in den ersten Wochen nach der Diagnose mehrmals auf den Klinikfluren. Er sah jedes Mal durch mich hindurch und grüßte mich nicht. Das machte mir unnötige Sorgen. Für einen winzigen Moment verknüpfte ich sogar sein Nichtgrüßen mit möglichen verminderten Heilungschancen. Erst allmählich stellte ich fest, er grüßte nie jemanden. Gleichzeitig war es gerade dieser Arzt, der im Verlauf der Therapie jedes Zeichen meines Körpers ernst nahm und sie für mich einordnete. Die vertrauensvolle Beziehung gelang deshalb, weil ich meinen emotionalen Einsatz für die Beziehung intensivierte. Ich zeigte mehr Verständnis für sein Verhalten, als ich es im Alltag normalerweise gemacht hätte.

Die Zeit nach der Therapie

Nach Beendigung der Therapie wurde die psychische Belastung für mich zunächst größer, gleichzeitig nahm das Verständnis für meine Situation ab. Solange mit mir etwas gegen die Krankheit getan wurde, fühlte ich mich sicher. Nun wurde nichts mehr getan. Nun ging es um die Dauerhaftigkeit des Ergebnisses. Ich musste ein anderes Verhältnis zu meiner Gesundheit gewinnen. Ich musste lernen, dass es mir nach dem Ende der Therapie auch nicht wieder so ging wie vor meiner Erkrankung. Das Ende der Therapie war vorerst nur das Ende von Übelkeit und Erbrechen. Ich war weiterhin von der kleinsten Anstrengung erschöpft. Ich wagte das Wort “gesund” nicht in den Mund zu nehmen. Ich wollte nicht zu voreilig sein. Ich wollte nicht den tiefen Fall der Enttäuschung. Ich sollte aber auch nicht mehr krank sein, sagten die Ärzte.

Für die Menschen um mich herum, näherte sich mein Alltag wieder der Normalität. Es gab keine Aktivitä­ten mehr, die jedem verdeutlichten, dass mein Leben durch die Erkrankung an Krebs beeinflußt war. Nur noch mein Erzählen holte die Erkran­kung in die Gegenwart meines Gegenübers. Ich drängte mich niemanden auf. Aber man fragte mich nach meinem Befinden. Und ich antwortete. Diese Antworten ertrugen nur noch wenige.

Etwa ein Jahr nach Ende meiner Therapie begegnete ich einem Bekannten. Er hatte von gemeinsamen Freunden von mir gehört. Und nun freute er sich für mich, dass alles vorbei war. In gewisser Weise stimmte ich ihm zu, ich deutete allerdings auch an, dass es mir noch nicht vollends wirklich gut ging. Ich litt  weiterhin unter Nachwirkungen der The­rapie. Manchmal hatte ich auch Angst. Körperliche Zeichen, die auch einmal Symptome der Krebserkrankung gewesen sind, stellten sich immer wieder ein. Und ich musste lernen, dass diese Zeichen meines Körpers auch wieder etwas anderes bedeuten konnten. Auch ein normaler Infekt war mit diesen Zeichen verbunden. Das auszuhalten war schwer.

Doch bei meinem Bekannten spürte ich den Wunsch nach einer anderen Auskunft. Immer drängender sprach er auf mich ein. Mein Erleben interessierte ihn nicht mehr wirklich. Er wollte hören, dass die Zeit, die ich durchlebt hatte, mich doch auch weitergebracht hätte. Ich sei doch wieder gesund. Er sprach von tie­ferer Erkenntnis über das Leben. Ich müsste doch jetzt alles mit anderen Augen sehen. Und man dürfe sich doch nicht nur auf die negativen Mo­mente des Lebens versteifen. So kam ich einmal mehr in die Lage, gleichsam mein Recht auf Leid zu verteidigen. Eine groteske Situation. Ich sollte mich dafür rechtfertigen, dass es mir schlecht ge­gangen war und dass daran erst mal nichts Gutes ist. Erst im nächsten Schritt beginnt Deu­tung und Verarbeitung. Heute denke ich, das Gespräch war von Anfang an ein Missver­ständnis. Wir redeten aneinander vorbei. Mit seiner ersten Frage bereits begann er von seiner Angst zu sprechen. Er war die ganze Zeit dazu bereit, durch seinen fantasierten Umgang mit Leid sich selbst zu retten. Wenn man sich wie er verhielte, so hoffte er, werde alles nicht so schlimm. Und ich erzählte ihm nun, es war trotz allem tatsächlich schlimm gewesen. Und manchmal war es das noch immer. Er brauchte den Trost in dem Moment. Er wollte sich entlasten.

Das war nicht das einzige Erlebnis dieser Art. Denn anstatt nur vom Glück der Heilung zu reden, redete ich auch davon, wie sich das Vertrauen in meine Ge­sundheit erst wieder entwickeln musste. Mehr als während der Therapie entfernte ich mich innerlich von manchen Menschen. Doch immer wieder ging es mir um das Aufgehobensein mit allen meinen Erfah­rungen in der Welt. Ich wollte mich verstanden wissen. Stattdessen erlebte ich, wie man mein Leid auf eigene Weise zu deuten begann. Ich erlebte, wie mein beeinträchtigtes Da-Sein vielen zu viel wurde. Doch jede vorschnelle Zuschreibung und jede Deutung des Leids durch das Gegenüber zerstört die Fäden, die den Leiden­den mit den Nicht-Leidenden verbindet.

Um keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen. Neben meinem Leid gab es immer auch Freude. Ich war eingebunden in ein Netz von Liebe und Zuneigung. Das waren Men­schen, die sich mir zuwendeten, ohne zu wer­ten. Zudem half es mir vor allem nach Ende der Therapie anderen Kranken und Genesenden zu begegnen. Ich hörte von ähnlichen Erfahrungen. Man mußte sich nicht immer erklären. Die Begegnungen waren nicht so anstrengend.

Gerade weil in unserer Gesellschaft die Menschen mit aller Energie daran arbeiten, Leiden zu verhindern, gibt es große Widerstände gegen die Einsicht, leidvolle Erfahrungen sind im Kern erst einmal nichts anderes als leidvoll. Um diesen Kern legt sich alles Bearbeiten des Leids. Aber seinen Charakter verändert dieser Kern dadurch nicht. Und es gibt immer wieder Momente, in denen dieser Kern spürbar wird. Diese Momente werden weniger mit der Zeit, aber es gibt sie.

Symptomatisch für das Verdrängen ist auch das Reden von der “Krankheit als Chance”. Das ist das Rezept des positiven Denkens in zugespitzter Form. Das führt zu eklatanten Missverständnissen. Selbstverständlich kann jemand durch die Konfron­tation mit dem möglichen Tod zu Ein­sichten kommen, die ihn sein Le­ben le­benswerter machen lassen. In einer ausführlichen Lebensgeschichte hat solch eine Deutung der Erkrankung dann ihre Berechtigung. Es macht einen Unterschied, ob man im Nachhinein die Erkrankung als Chance bewertet und in dieser Deutung die Momente des Leids mitschwingen. Oder ob “Krankheit als Chance” das Deutungsmuster vorab ist, das das Leid auf magische Weise in Gewinn verwandeln soll. Im öffentlichen Raum wirkt nur das Schlagwort. Und wieder werden dadurch Gewichte ver­schoben. Zunächst wird das Leid der Erkrankung vielleicht noch mitgedacht. Dann rückt es allmählich aus dem Blick. Chance, das ist die Zukunft. Da denkt man nicht mehr an das, was der Chance vorausgeht. Und das ist eine ganz andere Erzählung von der Krankheit. In dieser Erzählung muss man Abschied nehmen von Fähigkeiten, Träumen und Zielen. In solcher Erzählung geht es zunächst um Trauer. Das hört man weniger gern, als wenn jemand einen tieferen Sinn in seiner Erkrankung gefunden hat.

Obwohl in den Krankheitsgeschichten immer viel psychologisiert wird und von der Gesellschaft wenig die Rede ist, scheint es mir so zu sein, dass die Popularität dieser Deutung auf kritikwürdige Seiten unserer Lebensform weist. Da erzählen Kranke etwa davon, wie sie gelernt haben, sich an den kleinen Dingen zu freuen. Das ist zunächst einmal eine wunderbare menschliche Fähigkeit mit veränderten Lebenssituationen zurecht zu kommen. Man passt die eigenen Ansprüche an das Leben den Umständen an. In den Erfahrungsberichten erhält diese Tatsache aber eine Bedeutungsschicht, die über das Mut machen hinaus geht. Da werden dann in Fernsehportraits die O-Töne des Interviews ganz häufig mit Bildern unterlegt, die den Kranken oder Genesenden in der Natur zeigen. Blumen blühen auf und die Sonne scheint. Auf der Bildebene wird die Möglichkeit von Glück ohne Konsum gezeigt. Sollen die Kranken stellvertretend für den Rest der Gesellschaft etwa die Chance haben, das eigentliche und wahre Leben leben zu können? Aus einer von vielen Möglichkeiten mit einer Krankheit umzugehen wird unter der Hand fast ein Glücksversprechen für Gesunde.

Sinn macht das Leid erträglich, doch un­geschehen wird es dadurch nicht. Kör­perliche Schmerzen sind nichts als Schmerzen. Und der Tod beendet tat­sächlich ein Leben. Deshalb bleibt Leid im Jetzt, auf das reagiert werden muss. Je weniger leidvoll das gesellschaftliche Bild des Leides aber ist, desto größer wird die Kluft, die den Leidenden von den Menschen um ihn herum trennt. Sicher wird der Leidende zunächst immer zum Fremden. Er erlebt etwas, was ihn aus dem Fluss des Lebens herausholt. Er erlebt Nähe zum Tod. Diese Fremdheit ist nicht einfach aufhebbar. Da es zudem kaum mehr lebendige kulturelle Formen gibt, die in der Begegnung von Leidenden und Nicht-Leidenden Halt bieten, muss jeder auf sich selbst zurückgeworfen für das Gelingen einer solchen Begegnung einstehen.

Noch einmal: Das ist schwer. Und es ist schwierig, weil diese Begegnungen zweier Wirklichkeiten so empfindlich gegenüber Störungen und Missverständnissen sind. Darum ist das geduldige Bemühen um Verstehen so wichtig. Wenn dieses Bemühen spürbar wird, geschieht etwas Paradoxes. Das Verstehen muss nicht unbedingt gelingen. Schon das vorwurfsfreie Eingeständnis des Nicht-Verstehens bringt Leidende und Nicht-Leidende einander näher. Mir half es auch, wenn mein Rhythmus und mein Tempo ge­achtet wurden. Es half, wenn jemand  in der Orientierungslosig­keit zwar die kleinen Auswege wahr­nahm, sie aber nicht erzwingen wollte. Es half, wenn jemand seine eigene Angst erkannte und zu ihr stand. Je weniger sichtbar mein Leid wurde, desto wichtiger war es für mich, dass in Gesprächen mein gesamtes Erleben von Bedeutung blieb. So formte sich meine Erzählung vom Umgang mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung aus. Auch sie ist nur eine von vielen Erzählungen.

Ich fahre auswärts – Ein Wochenendexperiment der Sozialpsychologie

Schon im letzten Jahr hatte ich nach meiner Zwangsettikettierung als gewaltbereiter Auswärtsfan durch die ostwestfälische Polizei etwas über mein eigenes Erleben schreiben wollen. Das ist untergegangen. Ich hole es nach, weil ich mich auch am Sonntag durch die Wahl meines Verkehrsmittels für die Sicherheitslage vor Ort als potentiell gefährdend erwiesen habe. Die Polizei vor Ort war wieder vorbereitet.

Man muss sich die Ankuft in Paderborn als Viehtrieb vorstellen. Es gibt nur einen Weg, und der führt über den Bahnsteig am Ende durch ein verwinkeltes Gatter auf den schmalen Ausgang zu, wo ein Bus wartet, der uns aufnimmt. Während wir zu diesem Ausgang schlendern, werden wir gefilmt und den Weg über versucht eine Phalanx von Polizisten möglichst finster drein zu schauen. Mancheiner hat vielleicht sogar einen Grund dafür. Das Wochenende ist kaputt. Unsympathische Typen kommen da an, das will ich gar nicht ausschließen. Die gibt es in Duisburg auch. Mancher Polizist hat mit ihnen schon schlechte Erfahrungen gemacht. Alle haben diesen Grund sicher nicht. Das gehörte zum Tagesbefehl, unfreundlich gucken.

Der schmale Durchlass vor dem Betreten des Busses dient der Personenkontrolle. Zwei Polizisten tasten die Männer ab, zwei Polizistinnen schauen unters lange Haar der Frauen. Natürlich folgt im Stadion später die gleiche Prozedur noch einmal. Eine Menge anderer Polizisten stehen drumherum und gucken. Natürlich möglichst finster. Es geht sehr langsam voran, denn in dem Regionalexpress waren doch noch einige Duisburger. Was da geschieht, ist nichts anderes als eine Demonstration von Macht. Eine auf Kooperation angelegte Gewaltprävention wäre auch möglich. Es hätten nur ein paar mehr der herumstehenden Polizisten bei der Durchlasskontrolle aktiv sein müssen.

Andererseits gäbe es ohne diese Haltung der örtlichen Polizei nicht diese so wunderbare Möglichkeit zur Selbsterfahrung, die, wenn ich recht überlege, eigentlich Pflichtprogramm für alle Politiker und Populisten sein sollte. Bei Auswärtsfahrten von Fußballfans vollzieht sich mit Hilfe der Polizei und der örtlichen Sicherheitsdienste unweigerlich ein Experiment der Sozialpsychologie. Dort haben wir während eines begrenzten Zeitraums die Möglichkeit, intensiv etwas zu erfahren,  was für die individualisierte Mehrheitsgesellschaft der Gegenwart meist vergessen ist. Es sind die Folgen der Zwangszuschreibung von Identität.

Mir geht es um die innere Befindlichkeit, die in dieser Situation erfahrbar ist.  Begibt man sich mit allen Sinnen und offenen Empfindens in die Situation, wird man dazu gezwungen, sich zu bekennen. In mir wuchs Empörung, obwohl ich Verständnis für Gewaltprävention habe. Obwohl ich schon in jungen Jahren beim Fußball nur den Fußball sehen wollte, und ich diesen Fußball als Anlass für Scharmützel irgendwelcher Art sogar fürchtete. Doch in solchen auswärtigen Momenten wächst ein Gefühl der Zusammengehörigkeit mit jedem MSV-Fan um mich herum. Wir sind Opfer einer willkürlichen Behandlung. Die notwendige Gewaltprävention hatte jegliches Maß verloren. Die scheinbar so wunderbar einfach zu handhabende Empfehlung der Polizei, mich gar nicht erst in Zusammenhänge von Gewalt zu begeben, wurde durch die Polizei selbst ad absurdum geführt. Sie hat den Gewaltzusammenhang in Paderborn erst installiert, und die Polizei vor Ort hat mir keine Möglichkeit gelassen, diesem Gewaltzusammenhang zu entgehen. Meine einzige Möglichkeit wäre es gewesen, mein Trikot auszuziehen, den Schal abzulegen und meiner Identität zu entfliehen. Dann hätte ich die Polizeisperre druchschreiten und den Gewaltzusammenhang verlassen können. Doch was wäre ich in Paderborn gewesen ohne diese Identität? Ein Niemand.

Ihr merkt worauf ich hinaus will? So eine Auswärtsfahrt versetzt uns für einen begrenzten Zeitraum in eine Lage, der in unserer Gesellschaft andere Menschen andauernd ausgesetzt sind. Ich kenne keine Lösungen. Ich finde es nur beachtenswert, wie das Bewahren von Sicherheit zu Gefühlen führt, die drei Stunden vorher zu einem mir völlig fremden Leben gehörten. Auswärtsfahrten sind klasse. Ich kann sie jedem als großes Experiment der Sozialpsychologie nur empfehlen. Man kommt bereichert zurück. Als Duisburger aus Paderborn zudem noch mit großer Sicherheit auch ohne Niederlage.

Was haben Straßenfußball, Ausdrucksfähigkeit und Sparen der Kommunen miteinander zu tun?

Straßenfußballer gibt es keine mehr in Deutschland, hieß es vor einigen Jahren. Schon damals war das Unsinn. Die Straße voller Autos statt Fußball spielender Kinder war nur ein medienwirksames Bild für die unzureichenden spielerischen Fähigkeiten deutscher Fußballer bei Länderspielen; ein Bild, das auch deshalb gerne verwendet wurde, weil es beim DFB und den Fußballvereinen des Profibetriebs das sichere Wissen erträglich machte, während der Ausbildung von Nachwuchsfußballern Fehler begangen zu haben.

Straßenfußballer gab es damals, und sie gibt es immer noch. Im Duisburger Norden habe ich im letzten Jahr eine Straßenmannschaft kennengelernt. Das waren fünf Jungen zwischen zwölf und fünfzehn Jahren, die sich im Jugendzentrum „Zitrone“ regelmäßig trafen, sich als Mannschaft verstanden und ihr Fußballspiel untereinander an manchen Tagen Training nannten. Diese Jungen spielten nur nicht auf der Straße sondern im Hof dieses Jugendzentrums. Am Bild vom verschwundenen Straßenfußballer war nämlich eines richtig. Die Straße ist heute nur noch selten organisatorischer Kern eines anarchischeren, vereinsunabhängigen Fußballspiels. In den Städten sind oft die Jugendzentren an die Stelle der Straße gerückt. Denn eines ist für ein Fußballspiel unabdingbar, irgendwo müssen sich Jugendliche zunächst einmal treffen, wenn sie Fußball spielen wollen.

Die Mitarbeiter dieses Jugendzentrums sorgen also für die Möglichkeit zum Fußballspiel von Jugendlichen, für die die Mitgliedschaft in einem Verein fern liegt. Irgendjemand muss sich nämlich um den Eintritt in so einen Sportverein kümmern. Das sollte eigentlich die Aufgabe von Eltern sein, doch es gibt in den Großstädten dieses Landes inzwischen Stadtteile, in denen Kinder schon sehr früh in ihrem Leben sich selbst überlassen werden. Eine größere Öffentlichkeit bemerkt das meist nur dann, wenn Katastrophen wie der Tod eines Kindes geschehen.

Wer sich im Ruhrgebiet auskennt weiß, besonders in den nördlichen Stadtteilen der Region wachsen Kinder unter schwierigen sozialen und ökonomischen Bedingungen auf. In diesen Stadtteilen werden Jugendhilfe-Einrichtungen wie das Jugendzentrum „Zitrone“ schnell zu Familienersatz, Kinderrestaurant, Sportmöglichkeit, Berufsberatung und Nachhilfeinstitut in einem. Ich habe die „Zitrone“ vor fast vier Jahren kennen gelernt, als ich einen vom Jugendzentrum verantworteten Theaterworkshop für ein Buchprojekt beobachtend begleitet habe. So gebe ich gerne zu, wenn ich über dieses Jugendzentrum schreibe und es als Beispiel für die Arbeit von Jugendzentren überhaupt nutze, bin ich Partei. Mit der „Zitrone“ hat sich für mich ein regelmäßiger Kontakt ergeben, und zurzeit führe ich dort eine Schreibwerkstatt durch, in der jener von mir zu Heiligabend veröfffentlichte Liebesbrief an den Fußball entstanden ist. Ohne die Initiative des Jugendzentrums hätte es die Kooperation mit den Schulen nicht gegeben und die Schreibwerkstatt als zensurfreier Raum wäre nicht entstanden. Dort erleben Schüler ihre Sprache nicht mehr als für eine gute Zensur nicht ausreichendes Mittel, sondern als Möglichkeit sich selbst und die eigenen Ideen verständlich zu machen. Wer das möchte, verbessert seine Ausdrucksfähigkeit automatisch.

Die Arbeit dieses Jugendzentrums ist nun bedroht durch die finanzielle Situation der Stadt Duisburg. Vor Ort weiß es wahrscheinlich jeder, umfassende Sparmaßnahmen sind notwendig. Zurzeit liegt dem Rat der Stadt Duisburg eine Vorschlagsliste zu diesen Sparmaßnahmen vor. Werden diese Sparpläne in Bezug auf die Jugendhilfe Wirklichkeit, wird die soziale Arbeit mit Jugendlichen dort unmöglich, wo sie am nötigsten ist. Geld das an dieser Stelle gespart wird, kostet die Bürger wenige Jahre später das Doppelte und Dreifache, wenn Jugendliche ihre Zeit ohne Orientierung durch Erwachsene verbringen müssen.

Nun frage ich mich, ob die öffentliche Diskussion in der Stadt über die notwendigen Sparmaßnahmen in Duisburg überhaupt stattfindet. Ich schreibe das allerdings mit Vorbehalt, weil ich mich meist maximal zwei Tage in der Woche in Duisburg aufhalte. Sollte ich also etwas übersehen haben, lasse ich mich nur allzu gerne korrigieren.

Es war im Dezember, als zum ersten Mal eine Zeitungsmeldung zu diesen Sparmaßnahmen veröffentlicht wurde. Damals hatte es eine von der politischen Führung der Stadt einberufene Beratungsrunde gegeben, aus der erste Überlegungen zu den Sparplänen bekannt wurden. Mir fiel damals sofort auf, dass an oberster Stelle der möglichen Sparmaßnahmen die Jugendhilfe und die Kultur standen. Alleine der ehemalige Oberbürgermeister Josef Krings reagierte sofort auf die Bekanntgabe der Sparpläne und blieb aus Protest der VHS-Jubiläumsfeier fern. Andere Reaktionen darauf blieben lange Zeit so gut wie aus. Nun gibt es aktuell ein paar einzelne Stimmen, die sich für einzelne Projekte stark machen, aber ich erlebe das nicht als öffentliche Diskussion um die Bedeutung der Kultur etwa für die Stadt Duisburg.

In Köln hatte ich kurz zuvor etwas anderes erlebt. Dort machte der Stadtkämmerer seine Überlegungen zur Kürzungen des Kulturhaushaltes öffentlich. Sofort ergab sich eine Diskussion im Kölner Stadt-Anzeiger, verschiedene Personen des Kölner Kulturlebens nahmen Stellung, einzelne Bürger schrieben Leserbriefe und schließlich betonte sogar Oberbürgermeister Jürgen Roters die besondere Bedeutung der Kultur für Köln und dass dies bei allen notwendigen Sparmaßnahmen zu berücksichtigen sei.

Gibt es diese besondere Bedeutung der Kultur trotz aller Lippenbekenntnisse der Politiker vor und im Kulturhauptstadtjahr 2010 in Duisburg nicht? Natürlich geht es letztlich um Geld für das einzelne Projekt. Aber vorher geht es darum in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein dafür zu wecken, was diese einzelnen Projekte als Teil von Kultur für das Leben in Duisburg bedeuten. Für dieses Leben in Duisburg haben Kultur und Jugendhilfe dabei eine ähnliche Bedeutung. Nicht umsonst wurden beide Bereiche nach jenem ersten Politikergespräch im Dezember in einem Atemzug genannt.

Weiß Duisburg etwa um die Bedeutung jenes Kulturangebots rund um den Dellplatz? Weiß Duisburg als Stadtteil der Kulturhauptstadt RUHR.2010 darum, dass in Jugendzentren Kinder mit grundlegenden Kulturtechniken vertraut gemacht werden? Wenn ich die Reaktion auf diese ersten Gedanken zu den Sparmaßnahmen betrachte, habe ich das Gefühl, selbst die politisch Verantwortlichen der Stadt wissen das nicht.

Was die Sparmaßnahmen in der Jugendhilfe angeht, so haben verschiedene Verbände der Jugendhilfe zu einer Protestkundgebung am morgigen Freitag um 16.30 Uhr vor dem Duisburger Rathaus aufgerufen. Mir ist klar, dass die anvisierte Summe Geld tatsächlich eingespart werden muss. Ich hoffe für Duisburg sehr, dass Kultur und Jugendhilfe so wenig wie möglich zu dieser Summe beitragen werden.

Ich hab´da mal ´ne Frage zur Moral: Der Kouemaha-Wechsel

Die Saison hat längst begonnen und immer noch wechseln die Spieler ihre Vereine. Das ist möglich, weil erst nach dem 31. August der Transfer eines unter Vertrag stehenden Spielers nicht mehr erlaubt ist. In diesem Jahr wurde vom MSV Duisburg am 30. August verkündet, Dorge Kouemaha, einer von drei Stürmern des Vereins und Stammspieler, verlässt den MSV Richtung Brügge. Was danach zur Linderung der Fan-Sorgen folgte, interessiert hier heute nicht.

Mir führt der Weggang von Dorge Kouemaha nämlich etwas vor Augen. Wäre Kouemaha in der Sommerpause gewechselt, hätte das meine Aufmerksamkeit sicher berührt, doch die Angelegenheit wäre in die sachliche Frage nach entsprechendem Ersatz gemündet. Sein Weggang kurz vor Ende des Transferschlusses weckte so etwas wie Trauer über einen Verlust. Und das hatte nichts mit der Spielstärke Kouemahas zu tun oder meinen schwindenden Hoffnungen auf den Aufstieg.

Vielmehr machten sich da Enttäuschung bemerkbar und ein Aufbegehren gegen ein unter den Gegebenheiten des gegenwärtigen Fußballs rationales Handeln, dessen Kosten eine Gruppe, in diesem Fall die Mannschaft, tragen muss. Sprich, hier geht es anhand eines Beispiels an vielleicht überraschender Stelle um Gesellschaftskritik. Das, obwohl der Transfer von Kouemaha im Rückblick als Erfolg gewertet wird. Ich mache da keine Ausnahme und kann dennoch die Bedingungen, die zu ihm führten, kritisieren.

Dieser Wechsel berührt für mich eine Frage der Moral. Erinnern wir uns doch mal an Prüfungen unserer Loyalität als Kinder. Wann fühlte es sich richtig an, wie wir uns verhielten? Stellen wir uns etwa die Einladung zum Geburtstag von einem der besten Freunde vor. Du hast schon zugesagt. Ihr habt euch bereits überlegt, wie toll das alles wird und welche Spiele es nach dem Kuchen essen gibt. Nichts Spektakuläres, was ihr halt immer so macht. Einen Tag vor der Geburtstagsfeier flattert eine zweite Einladung ins Haus. Ein nicht ganz so guter Freund lädt zum spontanen Geburtstagsausflug ein. Es soll in einen Abenteuerpark gehen, und du weißt, mit deinen Eltern kommst du da demnächst nicht hin. Schwierige Entscheidung. Aber bester Freund ist bester Freund und zugesagt ist zugesagt, oder?

Nun erinnert das Fußballgeschäft nur ganz entfernt an schwierige Loyalitätsfragen für Kinder, und die meisten können sicher Dorge Kouemaha heute verstehen, dass er die sich bietende Chance ergreift. Wenn schon die UEFA-Statuten den Vereinswechsel nach Saisonanfang erlauben, warum sollen wir uns dann mit Fragen der Moral beschäftigen? Die Antwort lautet, weil das Nachdenken über solche moralischen Fragen und die daraus entstehenden Werturteile die Statuten kritisierbar machen. Die Wechselperiode müsste meiner Meinung nach vor Saisonbeginn enden.

Bei „11 Freunden“ lese ich gestern zufällig, dass Manni Breuckmann die Wechselmöglichkeit nach Saisonanfang mit einer leicht anderen Begründung ebenfalls für falsch hält. Übrigens spielt „Söldner-Mentalität“ bei dem Thema Wechsel nach Saisonanfang, wenn überhaupt, nur eine kleine Rolle – bei Dorge Kouemaha mit Sicherheit gar keine.

Lesehinweis: Die Bewertung von JAKOs Pressemitteilung

Gerecht, das  fühlt sich anders an, wenn ich die Pressemitteilung von JAKO des gestrigen Abends lese. Zwar wird von einer „Überreaktion“ geschrieben, doch gibt es auch dieses typische sich rechtfertigen, das jede Auseinandersetzung von neuem in Gang setzen kann.  Allerdings glaube ich auch, eine solche Auseinandersetzung, wie sie der Sportartikelhersteller gegen Trainer Baade aufgenommen hat, wird nicht ohne faden Beigeschmack enden. Das erklärt sich aus dem grundsätzlichen Ungleichgewicht von Macht zwischen Trainer Baade und JAKO, das die Öffentlichkeit immer nur in Grenzen ausgleichen kann. Letztlich steht da ein Mann, der auch noch was anderes im Leben zu tun hat, gegen ein Unternehmen, bei dem sich dann doch ein paar Menschen mehr diese ganzen unangenehmen Dinge in der Bearbeitung teilen können.

Dass der Wahrheit der Pressemitteilung eine andere Wahrheit überhaupt gegenüber gestellt werden kann, ist zwei vorzüglichen Bewertungen der Pressemitteilung zu verdanken. Die reine Textkritik nimmt auf Fernglas FCB André Zechbauer vor, und er wirkt dabei sehr viel unzufriedener als der in diesem Fall mehr der Realpolitik zuneigende Kai Pahl auf allesaussersport, der seine Textkritik mit der Analyse der gegenwärtigen Lage verbindet.


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