Beim MSV dieser Saison weiß ich inzwischen nicht mehr, ob ich auf eine frühe Führung für uns hoffen soll. Die Antwort wäre einfach durch die Statisitik zu erhalten. Ich müsste nur erheben, wann jeweils die Tore in den Begegnungen gefallen sind und welche Ergebnisse nach 90 Minuten zu verzeichnen waren. Zu dieser statistischen Erhebung habe ich jetzt keine Zeit. Vielleicht findet ja jemand anderer heraus, ob diese Stastitik Fakten bringt, die nicht nur meinen Eindruck entkräftigen, mit einem zählbaren Vorteil des MSV in der ersten Halbzeit wird die zweite Halbzeit eine Zitterpartie.
Vielleicht hilft mir jemand, den kühlen Verstand in Stellung zu bringen gegenüber der so schnell vorhandenen Sorge um das unbedingt notwendige Erreichen des Saisonziels, den Aufstieg. Vielleicht hilft die Rationalität mir morgen Abend, wenn es denn wieder vor dem Live-Stream unerträglich wird. Ruhig, könnte ich mir dann sagen, schau auf die Statistik. Alles im Lot. Helft mir! Sonst muss ich wieder durch die Räume joggen. Doch ich bin der Zeit voraus. Könnte ich doch überhaupt erst mal um einen Sieg bangen.
Erschwerend kommt hinzu, Hansa Rostock gehört für mich zu den Gegnern, die eine zusätzliche irrationale Angst vor der Niederlage auslösen. Da hilft keine Statistik. Die steht gegen die uns angeborene Möglichkeit der Welterfahrung durch Sinne. Mit der Statistik haben wir Menschen es schwer. Die verlangt nämlich nur zu oft, die persönliche Erfahrung als vereinzelte, gegenüber dem großen Ganzen widersprüchliche anzuerkennen. Alles in uns strebt dagegen. Schwierig, so ein Mensch-Sein in dieser Welt der Gegenwart.
Da schau ich mir doch lieber noch einmal das Tor von Michael Gardawski gegen Hansa Rostock in der Saison 2013/2014 an, das zum 1:0-Auswärtssieg führte. Auch bei diesem Sieg, habe ich vor dem Live-Stream sehr gelitten. Und schon sind wir wieder beim Anfang. Denn auch dieses Tor fiel früh. Helft mir mit Zahlen. Und außerdem: Ist dieses Tor überhaupt noch ein gutes Zeichen, da Michael Gardawski nun bei Hansa Rostock spielt? Fragen, so viele Fragen.
Jede Erinnerung wirkt wie ein neues Erleben. Deshalb sind Erinnerungen mit großer Vorsicht zu genießen. Manches wird dann beim Erinnern hinzugefügt, anderes weggelassen. Erinnerungen sind von Stimmungen abhängig, von dem Geschehen der Gegenwart. So kommt es zu unterschiedlichen Erinnerungen der Menschen an das, was sie erlebt haben. Welche zehn Momente fallen euch als erstes ein, wenn ihr an die letzten zwei Spielzeiten denkt? Natürlich fallen einem eher wichtige, schöne oder begeisternde Momente ein. Doch nicht bei jedem wird das so sein. Sicher ist nur, die zehn Momente sind persönliche Momente, weil die eigene Erinnerung sie – aus welchen Gründen auch immer – hervorgeholt hat.
Michael Gardawski köpft am vorletzten Spieltag zum Ausgleich im entscheidenden Spiel um Platz 2 gegen Holstein Kiel und gibt den Auftakt für sieben Minuten, in denen der Siegeswille von Holstein Kiel zerbröselt wird. (Update: Und schon werde ich darauf hingewiesen, dass natürlich Enis Hajri den Ausgleich erzielt hat und Gardawski die Führung. Ich musste natürlich selbst erstmal beweisen, dass es stimmt, was ich als Einleitung über die Erinnerung gesagt habe.)
Michael Gardawski schießt im Spiel gegen Hansa Rostock, am 31. Spieltag dieser Saison, in der letzten Spielsituation gegen Hansa Rostock freistehend am Tor vorbei. Der Sieg vergeben, es bleibt das Unentschieden. Die Zweifel am Aufstieg sind wieder da.
Im wilden Spiel gegen den 1. FC Heidenheim als erstem Heimspiel in der 3. Liga kennen sich die Spieler gerade erst seit ein paar Tagen. Sie haben ihren Einsatzwillen und das Grundvertrauen eines jeden Fußballers in die Entwicklungsmöglichkeiten eines Spiels. Eine Zusatzdosis Adrenalin ersetzt in großen Teilen taktisches Verhalten. Etwas mehr als 18.000 Zuschauer wollen dabei nicht hinten anstehen, geben wie die Spieler alles und machen auf den Rängen ein Höllenspektakel. Die 1:0-Niederlage verhindert das nicht.
Im Spiel gegen Energie Cottbus, am 33. Spieltag, jagt Martin Dausch auf Torsten Mattuschka in der 8. Minute so zu, dass es aussieht, als befände sich Mattuschka in einem Film, der mit deutlich geringerem Tempo abgespielt wird. Martin Dausch nimmt ihm den Ball ab, zieht Richtung Strafraum, flankt und Kingsley Onuegbu köpft zum Führungstor ein.
Der Heimsig gegen RB Leipzig durch ein Tor von Kingsley Onuegbu kurz vor dem Abpfiff und dem explosionsartigen Jubel im Stadion.
Nicht eine bestimmte Spielsituation habe ich vor Augen, sondern zwei Defensivaktionen, die in dieser Saison öfter zu sehen waren. Zum einen schließt Thomas Meißner mit einem kurzen Schritt zur Seite freien Raum und scheint dann einfach nur dazustehen, um dem Offensivspieler unspektakulär und souverän den Ball abzunehmen. Zum anderen macht Branimir Bajic freien Raum zu, indem er aus dem Zentrum auf die halben Flügel sprintet und spektakulär grätscht.
Die Grätschen von Sascha Dum in der ersten Drittligasaison, wenn er einen Meter hinter seinem Gegenspieler ansetzt, dann am Gegenspieler samt Ball vorbeirutscht und schon wieder steht, um mit dem Ball in die Gegenrichtung zu gehen.
Das Halbfinale im Niederrheinpokal gegen Rot-Weiss Essen. „Championsleague kann jeder“. Wir, auf den Rängen retten uns die Saison.
Michael Ratajczak hält im Spiel gegen Rot-Weiß Erfurt einen Elfmeter und sichert die 1:0-Führung.
Beim Auswärtsspiel gegen Arminia Bielefeld dieser Saison erzielt Zlatko Janjic ein Freistoß-Tor zur 2:0-Führung aus etwa 30 Meter, weil die Zwei-Mann-Mauer sehr viel mehr auseinander als hoch springt. Verloren wird das Spiel dennoch.
Leicht fällt es, von anderen etwas zu fordern, was einem selbst schwer von der Hand geht. Noch einmal etwas Gutes schaffen, wenn das eigentliche Ziel schon erreicht ist, ist ein Beispiel dafür. Die einen sollten Fußball spielen und gewinnen, was nur teilweise gelang. Nun will ich noch schreiben über diese Auswärtsniederlage, die wenig Gewicht hat, bei all der Freude über den Aufstieg. Es geht um Konzentration, um eine Aufgabe gut zu erledigen, deren Bedeutung sich bei genauem Hinsehen auflöst.
Die innere Einstellung lässt sich nicht leicht so hinbiegen, wie man sie haben will, so sehr wir uns alle anstrengen – die Fußballer des MSV Duisburg und ich. Das Auswärtsspiel beim SV Wehen Wiesbaden war ein Heimspiel mit langer Anreise. Von 9000 Zuschauern im Stadion kamen 8000, um den Aufsteiger MSV Duisburg zu feiern. Blau-weiß war nicht nur der Gästeblock hinter dem Tor, auch die Geraden, die eine zur Hälfte und die andere komplett, gehörten dem MSV Duisburg. Die Stimmung auf den Rängen war ausgelassen. Sie wurde befeuert durch Spieler in Aufstiegslaune, die mit mehr blau als blauweiß gefärbten Haaren zum Aufwärmen aufliefen. Nur die Bärte von Zlatko Janjic und Sascha Dum kamen farblich perfekt in weiß und blau zur Geltung. Ich wollte mich überraschen lassen, welche Auswirkungen das Feiern zu Beginn der Woche auf das Spiel haben würde.
Nachteile im Fernduell mit Armina Bielefeld um die Meisterschaft waren nicht zu erwarten, feierten beide Mannschaften doch auf Mallorca sogar gemeinsam den fest stehenden Aufstieg. Doch als ich die Mannschaftsaufstellung sah, vermutete ich bestimmt nicht als einziger, mit dieser bis auf Branimir Bajic neu zusammengestellten Defensive würde ein Tor für einen Sieg nicht reichen. Außerdem erwartete ich ohne Martin Dausch wenig Dynamik beim Spiel nach vorne. Deshalb überraschte mich, wie druckvoll der MSV die ersten zehn Minuten des Spiels anging. Die Mannschaft verkörpert inzwischen in jeder Besetzung den Geist des Aufstiegs. Wer so auftritt, weiß um die eigene Stärke. Nach vorne ging es schnell. Der Ball sollte rein in dieses Tor vom SV Wehen Wiesbaden. Die Wiesbadener Offensivversuche waren mit einer Ausnahme kurz nach Spielbeginn souverän unterbunden worden.
„Du warst zu vorschnell, das sieht gut aus“, so was Ähnliches ging mir durch den Kopf, als etwa in der zehnten Minute ein langer Wiesbadener Ball erneut abgefangen wurde. Halbherzig liefen die Wiesbadener die Duisburger Defensivspieler an, und gerade holte Christopher Schorch aus, um den Ball nach vorne zu schlagen. Stattdessen aber spielte er ihn punktgenau als etwas schwierig zu kontrollierenden Pass auf einen Wiesbadener Mittelfeldspieler. Besser hätten viele Stürmer als klassische Wandspieler den Konter auch nicht eingeleitet. Ich weiß nicht mehr, ob der Wiesbadener Spieler selbst am Flügel entlang marschierte oder einen Mitspieler schickte. Bilderbuchmäßig, sagt der Sportreporter gerne, wenn er von solch einem Konter spricht. Die Flanke kam, und weil Christopher Schorch den Wiesbadener Spieler im Sturmzentrum gut begleitete, übernahm er für ihn höflicherweise den Torschuss. Gelungenes Dreiecksspiel. Es stand 1:0, und ich merkte, ganz so egal war mir das Ergebnis doch nicht.
Ich kann dagegen nichts machen. Egal in welcher Sportart bei welchem Wettbewerb ich gerade unterwegs bin, egal ob ich selbst aktiv bin oder ob ich nur zuschaue, ich will, dass „meine“ Mannschaft gewinnt. Ich beginne mich zu ärgern, wenn Pässe nicht ankommen. Mich beschleicht Missmut, wenn ein Torschuss wieder daneben geht. Ich begann um meine Aufstiegsparty-Stimmung zu kämpfen. Dabei kam es mir zugute, dass neben mir zufällig ein alter Schulfreund saß. Vor dem Spiel gegen Kiel sind wir uns das erste Mal nach mehr als 30 Jahren über den Weg gelaufen, beim Auswärtsspiel gegen Wiesbaden schon wieder. Ein Zufall, der viel über die Zeit seit der Lizenzverweigerung erzählt. Denn im Netz tauschten wir uns schon seit dem Sommer 2013 wieder aus. So viele Anhänger des MSV Duisburg haben sich in den letzten zwei Jahren näher kennen gelernt, sind sich nach langer Zeit wieder begegnet und sind durch den Fußball beim MSV Duisburg in einem Kontakt, der über den Fußball hinaus wirkt.
Mit der Führung der Wiesbadener verlor das Spiel des MSV Duisburg den kontinuierlichen Druck. Es gab noch zwei, drei Chancen zum Ausgleich. Die größte Chance in der ersten Halbzeit vergab Zlatko Janjic, der schön frei gespielt, halblinks alleine aufs Wiesbadener Tor zulief und sich anscheinend nicht recht entscheiden konnte, ob er schlenzen oder hart schießen sollte. Die Mischung macht´s, heißt es ja gern; in dem Fall machte sie es dem Torwart einfach, den Schuss zu halten.
Die Chancen der Wiesbadener waren klarer, und nach meinem Gefühl waren es auch mehr. Gezählt habe ich sie nicht, und Gefühle können trügen. Sicher bin ich mir aber, dass sich zu Beginn der zweiten Halbzeit an meiner kaum vorhandenen Zuversicht auf den Ausgleichstreffer nichts änderte. Erst als als um die 55. Minute herum Kevin Scheidhauer, Martin Dausch und etwas später Michael Gardawski eingewechselt wurden, entwickelte die Mannschaft noch einmal Zug zum Wiesbadener Tor. Die klare Chance gab es nicht mehr. Kevin Scheidhauer verzog einen recht offenen Schuss an der Strafraumgrenze. Das war es aber auch.
Die Spieler hatten sich ohne Zweifel angestrengt. Während des Spiels war zu sehen, wie sie sich ärgerten über vergebene Chancen, über Fehler im Zusammenspiel, über slapstickartiges Zusammenprallen, wenn sie sich gegenseitig in den Weg liefen. Dann war die Pflicht erfüllt. Das letzte Spiel der Saison endete mit einer 1:0-Niederlage. An der guten Stimmung auf den Rängen hatte der Rückstand ohnehin nichts geändert. Das Spielfeld war in kurzer Zeit ins Blau der Aufstiegsshirts und in das Blau-Weiß von Schals und Trikots getaucht. Begeisterung gab es letzte Woche. Dieses Mal sah es mehr nach Spaß und Freude aus.
Noch einmal stieg die Mannschaft auf die Tribüne und feierte gemeinsam mit all denen, die ihren Platz auf dem Spielfeld eingenommen hatten. Noch einmal wurde versucht, die Ordnung aufrecht zu erhalten, indem die Anhänger der Zebras zurück auf ihre Plätze gebeten wurden. Noch einmal war das ein vergebliches Unterfangen. Und dieses Mal wurde gemeinsam gefeiert – ein Bild, das wir auch letzte Woche in Duisburg gern gesehen hätten. Die Wiesbadener Anhänger brauchten den Schutz der Polizeikette nicht. Wer immer auch vor den Wiesbadener Block lief, wollte ein Zeichen setzen – am Ende einer Saison sind wir alle eins, Menschen mit Spaß am Fußball und mit Einsatz für ihren Verein.
Verdrängen oder intensiv bearbeiten – zwei Möglichkeiten, die das Leben bietet, um mit belastenden Erfahrungen umzugehen. Dabei hat das Verdängen nicht den besten Ruf bei den Lebenshilfe-Profis. Doch seitdem am Samstag das Spiel des MSV Duisburg gegen Holstein Kiel abgepfiffen wurde, arbeitet in mir anscheinend einiges daran, die Vergangenheit zu verdrängen. Anscheinend möchte ich mit einem Schlag jeden Fußball der 3. Liga vergesssen. Vielleicht habe ich auch mit dem Schreiben hier in den letzten zwei Jahren genug bearbeitet von dem, was die Meldung vom Zwangsabstieg und dessen Folgen uns an unangenehmen Gefühlen bereitet hat. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, seitdem mit dem 3:1-Sieg des MSV der Aufstieg der Mannschaft in die Zweite Liga feststeht, fällt es mir schwer, mich an etwas anderes als an Jubeln und Begeisterung zu erinnern, geschweige denn dass ich über etwas anderes schreiben möchte. Denn dieses Schreiben hieße die Vergangenheit der 3. Liga noch einmal zum Leben erwecken.
Ich sehe einen leeren Rasen im ausverkauften Stadion. Das Spiel findet auf den Rängen statt. Dreimal wissen wir alle nicht wohin mit unserer Freude. Schemenhaft tauchen in diesen Momenten sogar blauweiß gestreifte Fußballspieler auf, die mitjubeln. Die erzielten Tore sind uns so selbstverständlich wie das Atmen. Auch darüber verlieren wir nur selten Worte. Dann wieder sehe ich sofort den Strom der Menschen auf das Spielfeld nach dem Abpfiff. Ich sehe irrwitziges Mienenspiel, ungelenkes Hüpfen und glücksvergessenes Tanzen. Ich höre unverständliches Stammeln und gegrölte Sätze, die Liedtexte sein sollen. Ich sehe Umarmungen, gezückte Handys, die ununterbrochen mitfilmen und mitfotografieren, was gerade geschieht. Sie nehmen Jauchzen und Schreien auf, komische Laute, die pures Glück sind. Raus, raus, raus, immerzu nur raus mit diesen ganzen überschwänglichen Gefühlen. Raus mit diesem Glück. Der MSV Duisburg ist der Grund. Der MSV ist wieder da, von der Elbe bis zur Isar, 2. Liga, wunderbar.
All das ist die Gegenwart meines Erinnerns. Alles andere ist in dieser Gegenwart schon die Vergangenheit der 3. Liga. Unwichtig geworden. Durchgangsstation. Allenfalls möchte mich ich noch an die erwartungsvolle Stimmung vor dem Spiel erinnern. In der Stadt machte sich wie im Juni 2013 die Bedeutung des Vereins bemerkbar. Nach zwei Jahren geschah das unter ganz anderen Vorzeichen. Wieviel Arbeit auf allen Ebenen steckte dahinter. Welche anders gelagerte Hoffnung konnte sich an diesem Tag zeigen. So früh waren die meisten von uns am Stadion. So früh waren die Stehplätze voll. So laut wie schon lange nicht mehr in diesem Stadion walzte ein Lied schon eine Stunde vor dem Anpfiff über den Rasen: „Werdet zur Legende, kämpfen ohne Ende für die Zweite Liga. EM – ES – VAU!“
Vielleicht ist dieses Fußballspiel aber auch verblasst, weil ich mir des Sieges so sicher war. Wenn ich vom Spiel sprach, erwahnte ich der Pflicht halber noch das Unentschieden als mögliches Ergebnis, das dem MSV auch noch alles offen hielt. Aber das Auftreten der Mannschaft in den letzten Spielen versprach etwas anderes. Diese Spieler hatten sich zu einem Spitzenteam gefunden. Wann haben wir in Duisburg, dieses Wort „Spitzenteam“ einmal ausgesprochen? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Mannschaften der Zweitligaaufstiegsjahre ein derart großes Selbstbewusstsein ausgestrahlt haben. Wie sehr haben meine Freunde und ich uns in den letzten Jahren eine Mannschaft gewünscht, die das Spiel bestimmt und die ein Rückstand nicht aus der Bahn wirft.
In den letzten Wochen der Saison konnten wir so eine Mannschaft erleben. Als ob es eines letzten Beweises bedurft hätte, geriet diese Mannschaft in dem entscheidenden Spiel gegen Holstein Kiel tatsächlich nach zehn Minuten in Rückstand. Michael Ratajczak hätte den scharf geschossenen Freistoß normalerweise halten können. Leicht war das nicht, aber auch nicht zu schwierig. Mannschaft und Zuschauer hatten etwas zu verdauen. Für meine Siegesgewissheit kam das Tor früh genug. Viel Zeit blieb, um das Spiel zu drehen. Denn eigentlich bestimmte der MSV in dem Moment dieses Spiel vollkommen. Von Anfang an drang die Mannschaft energisch auf ein Tor. Früh wurden die Kieler angegangen. Aggressiv gingen die Zebras in die Zweikämpfe. Um jeden Ball wurde intensiv gerungen. Jedem Ball wurde nachgegangen, selbst wenn die Chance ihn vor dem Aus zu retten noch so klein war.
Etwa zehn Minuten später war zu merken, der Druck des Anfangs auf das Kieler Tor war wieder vorhanden. Dieses Mal trieb Martin Dausch den Ball nach vorne. Die ganze Kieler Defensive zog er bei diesem beeindruckenden Antritt auf sich, um im perfekten Moment auf den frei gewordenen rechten Flügel zu spielen, wo Enis Hajri nachgerückt war und nun alleine auf das Kieler Tor zumaschieren konnte. Wer im Fußball gerne „ausgerechnet“ sagt, durfte das wieder machen. Ausgerechnet Hajri, den wir in Duisburg nicht als einen der ballsichersten Spieler kennengelernt hatten. Doch alleine aufs Tor zugehen ist etwas anderes als im defensiven Mittelfeld früh gepresst zu werden. Alleine behielt er die Nerven und verwandelte zum Ausgleich.
Begeisterung, die erste. Viel Zeit sich zu beruhigen blieb nicht. Der MSV fing den Angriffsversuch nach dem Wiederanstoß ab. Kingsley Onuegbu erhielt den Ball auf dem linken Flügel und trieb ihn nicht allzu schnell, aber wie in einem Hochsicherheitstrakt abgeschirmt Richtung Torauslinie der Kieler. Waren es vier, fünf, sechs Kieler, die er stehen ließ? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls erwarteten wir zweimal den Pass in die Mitte, und er ging einfach immer weiter unbeirrt Richtung Kieler Torauslinie. Dort zog er leicht nach innen, flankte genau, und der völlig frei stehende Michael Gardawski nickte per Kopf ein.
Begeisterung, die zweite. Viel Zeit sich zu beruhigen blieb nicht – wenn auch etwas mehr als nach dem Ausgleich. Wir alle spürten, nicht nur auf den Rängen wollte jeder die noch sicherere Führung. Auch die Mannschaft drängte weiter, als ob die Kieler Sparringspartner waren. Doch es war ernst. Es ging um den direkten Aufstieg. Der MSV spielte gegen eine Mannschaft, die in diesem Jahr noch nicht verloren hatte, eine Mannschaft, die viele ihrer Tore in den letzten Minuten erzielte, eine Mannschaft, die sich nicht aufgab. Deshalb war ein drittes Tor kein so schlechter Gedanke. Sechs Minuten dauerte es dieses Mal. Einwurf am linken Flügel durch Kevin Wolze, schneller Rückpass auf ihn, Flanke und dieses Mal macht Michael Gardawski das Tor mit dem Fuß.
Aus Begeisterung wird Ekstase. So ließ sich der Rest des Spiels beruhigt angehen. Der Siegeswille der Kieler war zerbröselt. Kurz lebte er zu Beginn der zweiten Halbzeit noch einmal auf. Was auch daran lag, dass sich der MSV wie gewohnt zu sehr zurückzog und den Kielern die Initiative überließ. Doch in dem Spiel verließ sich der MSV nicht alleine darauf, dass aus dieser tiefer stehenden Defensive irgendwann mal ein Konter gelingt. In dem Spiel begann die Mannschaft nach etwa zehn Minuten der zweiten Halbzeit wieder höher zu verteidigen und vorbei war es mit dem Kieler Druck. Harmlos blieb die Mannschaft. Souverän sicherte der MSV bis zum Abpfiff den Vorsprung. Die bekannte Stärke der Kieler in der Schlussphase kam in Duisburg nicht zum Tragen.
Na, ein paar Erinnerungen an das eigentliche Spiel habe ich ja doch noch hervorkramen können. Manchmal muss man sich selbst ein wenig überlisten, dann klappt das auch mit den Bildern der Vergangenheit. Die Lebenshilfe-Profis nennen das dann Erinnerungsarbeit. Je intensiver diese Arbeit, desto freier für das Neue, Unbelastete, für die Begeisterung, für den Jubel, für die Zweite Liga. Der MSV ist wieder da.
Und nun wieder Begeisterung pur: Die sieben Minuten Übermacht MSV Duisburg mit dem sich überschlagenden Kommentar von ZebraFM – Großartig.
Wie oft werden wir die Geschichten dieses Tages noch erzählen müssen, damit wir das Gefühl haben, nun endlich hätten wir es wirklich geschafft? Wir hätten endlich ganz genaue Wörter gefunden, sie zu Worten gemacht und hätten nun so genau wie möglich beschrieben, wie es sich angefühlt hat in all den fantastischen Momenten dieses Tages, als der MSV Duisburg mit einem 3:1-Sieg gegen Holstein Kiel den Aufstieg besiegelte.
Es war ja nicht nur das Glück beim Schlusspfiff. Es war die sich steigernde Begeisterung, als innerhalb von sieben Minuten der Kieler Siegeswille zerbröselt wurde. Es war diese so klar erkennbare Bedeutung, die der MSV Duisburg an diesem Tag für die Stadt hatte. Es war die erwartungsvolle Spannung auf der Hinfahrt zum Stadion mit all ihren zufälligen Begegnungen zwischen Anhängern dieses MSV Duisburg, die aus ganz Deutschland nach Duisburg gekommen waren. Es ist die anhaltende Freude.
Ein paar Mal werde ich es noch erzählen müssen. Bis dahin sprechen erst einmal die Bilder.
Was wie der typische Parkplatz von einem der vielen Toys-Dingenskirchens Deutschlands aussieht, ist in Wirklicheit der inoffizielle Autobahnhof nahe der A3, Abfahrt Köln-Dellbrück. Die Disponenten der privaten Zebraverkehrsbetriebe hatten am Sonntag eine Verbindung von Bergheim nach Erfurt eingerichtet mit Zwischenstopp an diesem Zu- und Umsteigeplatz. Die wollte ich um etwa 8.30 Uhr nehmen. Der MSV Duisburg spielte bei Rot-Weiß Erfurt. Aber sonntags auf diesem menschenleeren Platz im Nirgendwo an der Bergisch-Gladbacher Straße einen Tag lang ein Fahrrad abzustellen, schien mir kein guter Gedanke. Präsentationsfläche und Mitnahmemarkt klangen mir ununterbrochen im Ohr.
So rollte ich auf der Suche nach einem einigermaßen sicheren Abstellplatz auf dem benachbarten REWE-Parkplatz ein. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich drei junge Männer an einem Auto und im selben Moment wurde ich mit „allez, allez MSV“ begrüßt, und, klar, fragt einer mit Wurzeln im Pott sofort trocken, ob ich meine, mit dem Fahrrad noch bis zum Anpfiff nach Erfurt zu kommen? Das klang nach Heimat. Wenn wir Anhänger des MSV Duisburg uns mit einer zweiten Direktverbindung Köln-Erfurt schon frühmorgens auf der Schäl Sick als Massenbewegung fühlen konnten, ließ das noch sehr viel mehr heimatliche Begegnungen in Erfurt erwarten, Wenig später hatte ich meinen Abstellplatz gefunden, die Fahrt konnte beginnen und all die Autos mit Zebrafans, denen wir auf dem Weg begegneten, steigerte die Vorfreude auf das Spiel.
Keine Frage, der Verkehrsstrom nach Erfurt zeigte, zur Rückkehr in die Zweite Liga war nicht nur die Mannschaft entschlossen. Anspannung spürte ich nicht. Seit einiger Zeit bin ich mir vor den Spielen sicher, das Vorhaben Aufstieg wird gelingen. Seit einiger Zeit bange ich aber auch um diese Sicherheit in den Spielen selbst immer wieder. Ich hoffte, auf eine schnelle sichere Führung, damit meine Nerven dieses Mal geschont blieben. Der MSV tat mir zunächst den Gefallen. Welch druckvolle erste Minuten zeigte die Mannschaft. Sie wollte dieses frühe Tor auch. Den Erfurtern blieb kaum Zeit, sich mit Ball und Spiel vertraut zu machen. Sie stopften Löcher und das meist vergebens. Eine Großchance vergab Kevin Scheidhauer mit einem halbgaren Schuss weit über das Tor. Kurz danach kam er er erneut zum Abschluss. Der Ball war sehr viel schwieriger zu nehmen, kam dafür aber auch genau aufs Tor. Der Erfurter Torwart klärte. Das 1:0 schien eine Frage der Zeit zu sein. Kingsley Onuegbu erzielte dann dieses Tor schon in der elften Minute und machte es zu einer Art persönlicher Leistungsschau. Der halbhohe Pass kam in seinen Lauf. Die perfekte Annahme, zusammen mit dem gleichzeitig an ihm abprallenden und niedersinkenden Abwehrspieler plus Torschuss bei leichter Verdrehung des Körpers gegen die eigentliche Laufrichtung, all das zusammen wirkte wie die Essenz seines Spiels. Großartig.
Weil die Erfurter alles in allem in der Offensive vollkommen harmlos blieben, selbst wenn sie das Mittelfeld einmal schnell überspielt bekamen, machte ich mir keine Sorgen. Einen steilen Pass allerdings brachten sie an den Strafraum. Der Erfurter Spieler kam ins Straucheln. Steffen Bohl war bei ihm und konnte nicht verhindern, dass dieses Straucheln zum Rutschen in den Strafraum wurde. Der Schiedsrichter überlegte einige Zeit, welche Zusammenhänge es gab und musste irgendetwas entscheiden. Da nahm er der Einfachheit halber den Elfmeter. So ungefähr sah der Verlauf dieser Spielszene aus. Beunruhigt hat mich dieser Elfmeter nicht. Wenn der Ausgleich fiele, war es für mich nur eine Frage der Zeit, bis der MSV erneut in Führung ginge. Es kam aber noch besser. Michael Ratajczak hielt den zentral geschossenen Ball. Der MSV führte weiter. Nun konnte die Mannschaft ohne Druck das zweite Tor nachlegen, so dachte ich. Doch weit gefehlt.
Vielleicht war die Erleichterung der Spieler über den gehaltenen Elfmeter zu groß? Vielleicht war kurz die Sorge aufgeblitzt trotz Überlegenheit könne doch etwas schief gehen? Aus der Sorge ergab sich vielleicht Vorsicht? Der MSV ließ die Erfurter jedenfalls mehr ins Spiel kommen. Passte die Erfurter den Ball im Mittelfeld quer, wurde einen Moment früher als in der Anfangsphase beim Anlaufen abgedreht. Eigene Pässe wurden überhastet aus gefährlichen Zonen gespielt. Es gab Momente des Spiels, in denen ein oder zwei Minuten von beiden Mannschaften Fehler auf Fehler geschahen, und Ballkontrolle die Eigenschaft einer anderen Sportart zu sein schien.
Da war es also wieder geschehen. Die Mannschaft und ich hatten unsere Sicherheit im Spiel verloren. Bei mir führt das inzwischen zu einer übersteigerten Bedrohungswahrnehmung. Je länger das Spielgeschehen offen wirkt, desto gefährlicher nehme ich jede Bewegung Richtung Tor des MSV Duisburg wahr. Gelangt ein Ball gar in den Strafraum falle ich in Schockstarre, die sich in Übersprunghandlungen löst. Meine Stadionnachbarn haben blaue Flecken auf den Rücken, anderen habe ich die Schultern mit meinem Angstsschweiß getränkt. Ein Lob den geduldigen Menschen, die mich durch ein Spiel begleiten.
Nach der Halbzeitpause kämpfte der MSV sehr darum, das Spiel wieder an sich zu reißen. Mit aller Kraft wollte die Mannschaft verhindern, dass die Erfurter noch druckvoller wurden. Das Spiel wirkte wahrscheinlich gerade wegen dieser Anstrengung nicht richtig flüssig, Der Mannschaft war es aber gelungen, die Ballkontrolle wieder zum Wort der Fußballersprache zu machen. Erneut ließen sich aber einzelne Pässe in die Schnittstellen der Defensive nicht verhindern. Michael Ratajczak stellte zwei Mal im eins gegen eins die Erfurter Stürmer und verhinderte den Ausgleich. Branimir Bajic klärte immer wieder souverän. Auch der MSV hatte seine Chancen. Kevin Wolze hob einen Freistoß knapp außerhalb des Strafraus gefühlvoll über die Mauer. Der Ball ging an die Latte. Ein Kopfball von Steffen Bohl wurde auf der Linie geklärt. Meine Nervosität wuchs. So dringlich hoffte ich auf das erlösende zweite Tor.
Der King leitete dieses Tor ein. Wahrscheinlich wird der Erfurter Defensivmann niemals mehr glauben, er könne an seiner rechten Außenlinie in Ruhe den Ball nach vorne bringen, nur weil ein potientiell anlaufender Stürmer sich gerade in der Mitte befindet. Kühl wollte er sein, seine Automatismen abrufen. Doch dann kam der King. Wenn er als erster Mann der Defensive sprintet, sieht das nicht sehr schnell aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einem Defensivspieler den Ball abjagen soll. Er soll den aufbauende Spieler irritieren, ihn zwingen, unpräzise abzuspielen. Doch offensichtlich hatte der Erfurter Spieler den King unterschätzt. Weniger sein Tempo als seinen Einsatzwillen. Er scheint nicht geglaubt zu haben, der King könne ernst machen. Mit einem Mal stocherte der ihm schon zwischen den Beinen herum, und der Ball war erobert. Der schnelle Pass auf den heransprintenden Martin Dausch folgte. Der trieb ihn weiter Richtung Strafraum. Die Flanke kam wunderbar auf den mitsprintenden Zlatko Janjic und weil der in Dresden die Generalprobe für dieses Tor vermasselte, klappte die Erfurter Premiere um so besser. Was für eine Erleichterung. Das war der Sieg. Daran bestand kein Zweifel. Die bestmögliche Grundlage für das Endspiel um Platz 2 am nächsten Samstag war geschafft. Meinen Stehplatzkumpeln rate ich schon jetzt zu Schulterpolstern und Rückenpanzern.
Nach dem 2:0-Sieg gegen Rot-Weiß Erfurt muss ich es anders machen als nach dem Auswärtssieg gegen Dresden. Erst kommen die Fotos und später meine Worte zum Spiel. So ganz habe ich noch nicht zurück gefunden zur Stimmung, die für das Schreiben nötig ist. Ich bin ein wenig erschöpft – sowohl von der Siegesfreude als auch von meiner leichten Nervositätshysterie, die ab etwa der 30. Minute bis zum Moment des zweiten Tores trotz aller zuversichtlichen Konzentriertheit des Morgens bei mir ausgebrochen war. Die Autofahrt als weiterer Grund nicht zu vergessen, mit einem herausfordernden Stau bei Leverkusen kurz vor dem Ziel. Ich lass also erstmal Bilder sprechen und erhole mich weiter. Samstag, so viel ist gewiss, wird alle Kraft wieder nötig sein.
Gästeeinlass auf der Baustelle
Die Zukunft auf dem Bauschild
Die alte Haupttribüne
bleibt stehen
Zlatko Janjics Einsatz entschied sich erst beim Warmmachen
Geht doch…
Gästekurve macht
sich auch warm
Tribünengast mit Vergangenheit in beiden Vereinen: Stefan Emmerling
„Stig“, sagt Kees gestern zu mir, „du schreibst jetzt aber nicht auch noch was zum Spiel gegen Oberhausen und zu Lettieri. Wir gucken nach vorne. Wir müssen gegen Cottbus gewinnen. Die Stimmung muss dafür überall wieder besser werden.“ Red du mal, hab ich gedacht und „Nein, tut mir leid, Kees“, gesagt, „die Stimmung wird so und so besser. Ich schreibe mit Sicherheit was nach diesem Vorbericht vom MSV zum Spiel gegen Energie Cottbus“. Was raus will, muss raus. Gibt sonst nur irgendwelche Krankheiten, die keiner kennt.
Für alle, die den Vorbericht noch nicht gesehen haben.
Seitdem ich hier beim Kees mitmache, bin ich wohl zum Mann für grobe Worte geworden. Ich kann auch anders, ich komme nur nicht dazu. Natürlich weiß auch ich, dass das Ziel Aufstieg nur gemeinsam erreicht wird. Aber deshalb zu Gefahren schweigen? Wenn wir alle Samstag im Stadion stehen, wird es ohnehin diesen Zusammenhalt geben. Da bin ich sicher. Das ist Fußball. Es geht immer weiter. Es wird eine andere Mannschaft sein, die antritt und Oberhausen wird vergessen werden.
Nicht vergessen werde ich aber, dass Gino Lettieri und Ivo Grlic große Schwierigkeiten haben sich einzugestehen, dass sie vor dem Spiel gegen Rot-Weiß Oberhausen einen Fehler gemacht haben. Das ist Schnee von gestern, sagen bestimmt schon genügend Leute, sagt Kees ja zähneknirschend auch. Leute, klar, das stimmt. Aber habt ihr euch den Vorbericht jetzt angesehen?
Ich will warnen, vor allem will ich Gino Lettieri und Ivo Grlic helfen. Was die beiden in diesem Vorbericht machen, hat einen Namen in allen Beziehungsratgebern. Das ist der Worst Case aller Krisen. Wer mit zwei widersprüchlichen Botschaften an jemanden appeliert, um ihn emotional zu binden, macht ihn verrückt. Machse etwa wieder „Doublebind“?, sagen wir MSV-Fans zu Lettieri demnächst alle. Wir kennen unsere Beziehungsratgeber und sind alle Fachleute für Kommunikation. Wer sich bei Wikipedia zum „Doublebind“ einlesen will, bitte schön, nur ein Klick.
Man kann nicht den Zusammenhalt beschwören, nachdem man sich als allererstes erneut von den Spielern distanziert hat. Das ist genau das Gegenteil von Zusammenhalt. Wer also mit dem Distanzieren anfängt, gibt den Fans ein Beispiel. Welcher Botschaft sollen wir folgen? Der impliziten? Ich darf sehr wohl sehr sauer über einzelne in unserer MSV-Welt sein und diesen Unmut auch äußern, jeder eben nach seiner Art. Oder der durch Worte transportierten? Wir schaffen den Weg gemeinsam? Dass in Oberhausen genügend Idioten auf den Zebrarängen unterwegs waren, lass ich mal außen vor.
Nun gibts ja ne Menge unter euch, die sagen, Lettieri hat doch recht. Die Spieler spielten schlecht. Wir haben doch ein Recht sauer zu sein. Interessiert an der Stelle aber gar nicht! An der Stelle geht ja es um den Zusammenhalt. Und wer den aufs Schild hebt, muss anders handeln. Und jetzt führe ich euch einen kleinen Zaubertrick vor. Man kann Zusammenhalt beschwören und jemanden in der Gruppe, um die es geht kritisieren, wenn man zuvor den ehrlichen Blick auf sich selbst geworfen hat.
So, und zu diesem ehrlichen Blick gehört eine ganz offensichtliche Aussage, die ich weder von Gino Lettieri noch von Ivo Grlic bislang gehört habe. Beide tragen die Entscheidung für die Aufstellung der Mannschaft des MSV im Spiel gegen Oberhausen. Beide müssten sagen, wir haben nicht erwartet, dass RWO so stark spielt. Das ist unser Fehler gewesen. Erst danach können wir den Zusammenhalt beschwören. Wer die Aufstellung nur damit rechtfertigt, fast alle Spieler der Mannschaft in Oberhausen beanspruchten in der 3. Liga samstags in der ersten Elf zu sein, übertüncht mit dicken Farben die Tatsache, dass diesem Anspruch während der letzten Wochen von den sportlich Verantwortlichen nicht stattgegeben wurde.
Wer Kevin Scheidhauer im Spiel gegen Rostock gesehen hat, kann doch nicht ernsthaft einen überlegen aufspielenden Stürmer erwarten. Wer Michael Gardawski und Dennis Grote in den Punktespielen der letzten Wochen gesehen hat, kann doch nicht ernsthaft erwarten, dass sie sich problemlos gegen sehr motivierte Oberhausener Spieler durchsetzen werden. Dabei hatte ich für die Offensive noch weniger Bedenken als bei der Defensive. RWO hatte in den letzten Wochen einen Lauf. Diese Mannschaft spielte sehr gut zusammen, und das sollte eine Defensive bewältigen, die erstmals in einem Wettbewerb unter Druck geriet? Träumerei!
Wer je über einen längeren Zeitraum Mannschaftssport betrieben hat, wird es kennen, dass selbst bei harter Konkurrenz in der eigenen Mannschaft das Trainingsspiel den einzelnen Spieler weniger beansprucht als das Spiel im Wettbewerb. Das ist normal, denn man spielt mit der eigenen Gruppe. All das sage ich nur noch einmal, weil es mir um den Zusammenhalt geht. Die Leute reden und schreiben sich über die Mannschaftsaufstellung in Rage. Die Meinungsverschiedenheiten haben doch einen Grund, und der ist eine Leerstelle bei den Erklärungen für die Niederlage. Der Zusammenhalt wäre einfacher zu haben, wenn diese Leerstelle durch Selbstkritik von Gino Lettieri und Ivo Grlic gefüllt worden wäre.
Übrigens spielte Cottbus beim Regionalligisten Babelsberg und gewann 2:0. Der Trainer, Stefan Krämer, hat es nach so einem Sieg natürlich einfacher auf der Pressekonferenz. Bei einigen seiner Sätze könnten in Duisburg aber sogar die Ohren klingeln. Er ist sehr froh über den Sieg und ab Minute 2.05 berichtet er, dass sie sich vor dem Länderpokalspiel genauso vorbereitet hätten wie vor einem Drittligaspiel, und dann sagt Stefan Krämer etwas, was in Duisburg jedem, der nur die Spieler kritisiert, aus dem Blick geraten ist: „Es ist nicht selbstverständlich bei einem Regionalligisten 2:0 zu gewinnen.“
Zu Beginn, ab 0.45, spricht Stefan Krämer außerdem zu dem Fußball, der ihm am besten gefällt und gibt einen interessanten Einblick in Mannschaftstaktik.
Eine Spielsituation in der Begegnung des MSV Duisburg gegen Hansa Rostock war eine Art Reader’s-Digest-Version des gesamten Spiels. Mit ihr sahen und spürten wir alles, was das 2:2-Unentschieden ausgemacht hatte, wenn wir vom Spielereignis Tor einmal absehen. Es war die allerletzte Spielsituation. Jeder wusste, der Schiedsrichter wird jeden Moment abpfeifen. Dem MSV wurde noch einmal ein Freistoß zugesprochen. Halblinks, in Verlängerung der Strafraumecke, vielleicht 25 Meter, eigentlich zu weit, um direkt zu schießen, doch in mir brannte dieses Verlangen nach einer Wiederholung all der Umstände, die das Janjic-Tor in Bielefeld aus noch weiterer Freistoß-Entfernung ermöglicht hatten.
Ich sah wieder die auseinander springenden Abwehrspieler vor mir. Ich ignorierte das Ballgefühl von Zlatko Janjic dieses Tages, das nicht das Beste gewesen ist. Ich fantasierte diesen einen siegbringenden Schuss mit solch einer Macht, dass ich vor der erwarteten Enttäuschung geradezu wankte, weil alles in mir wusste, solch ein Glück gibt es in Wiederholung nur selten. Diese unbändige Sehnsucht, dieses Spiel zu gewinnen, war auf den Rängen überall zu spüren. Das Stadion stöhnte, ächzte und japste. Es gab keine Luft für wirklichen Support. Die Rufe waren ein banges Mutmachen. Zu spüren war die Ohnmacht dem Geschehen auf dem Rasen ausgeliefert zu sein. Nichts unter Kontrolle zu haben, abhängig zu sein von dem, was die Spieler des MSV Duisburg nun machten.
Diesen Spielern des MSV war aber überhaupt nicht bang. Diese Spieler hatten einen Plan, der mehr war als die pure Verzweifelung, als ein allerletztes Aufbäumen. Diese Spieler vertrauten auf mehr als nur dem einen Glücksschuss, der sie retten sollte. Diese Spieler spielten noch in dieser allerletzten Spielsituation strategisch. Sie wollten näher vor das Tor. Sie wollten den Erfolg wahrscheinlicher machen. Man muss sich erinnern. Sie wussten, sie mussten sehr schnell näher ans Tor kommen. Jeder längere Spielzug geriet in Gefahr vom Schlusspfiff zerstört zu werden. Kurz und steil wurde der Freistoß in Richtung Strafraum gespielt, und erneut brannte in mir die Ungeduld. Diese Meter, näher zum Tor, jetzt aber schießen. Doch immer noch nicht wurde der Abschluss gesucht. Die Flanke kam auf den hinteren Pfosten, und ich sah eine Flut von blau-weiß-gestreiften Trikots im Fünfmeter-Raum.
Irgendeiner dieser Spieler musste doch diese Flanke so erreichen, dass er sie mit einem wuchtigen Kopfball ins Tor bringen konnte. Doch erneut wurde nicht der Abschluss gesucht. Verständlich, weil diese Flanke keine war, nach der ein Kopfball hätte Erfolg haben können. Der Ball wurde zurückgeköpft in den Fünfmeter-Raum, dort noch einmal verlängert in Richtung zweiten Pfosten. Die Spannung im Stadion war mit jedem Ballkontakt gestiegen. Die Zuschauerränge waren bereit zu explodieren. Jeder sah, wie frei der MSV-Spieler an diesem Pfosten war. Die Rostocker waren Statisten geworden in diesem Spielzug. Sie hasteten dem Ball hinterher, waren chancenlos trotz all der Spieler, die sie in den eigenen Strafraum hatten zurück gezogen.
Gleichzeitig aber wusste ich, dieser Ball kommt nicht perfekt, es wird kein Kinderspiel diese Vorlage zu verwandeln, wenn dieser Spieler nicht schon vorher instinkthaft in die Torschussbewegung gegangen ist. Der Ball erreicht den Spieler und es ist sofort klar, dieser verknotete Körper braucht immenses Glück trotz der Nähe zum Tor, um den Ball über die Linie zu drücken. Ich kenne solche Situationen aus dem Basketball. Alles scheint einfach zu sein, doch die Bewegung des Balls und des eigenen Körpers finden keinen Einklang. Der winzige Moment zum Erfolg geht vorbei. Der Ball landet nicht dort, wo er hin soll. Michael Gardawski schoss am Tor vorbei. Das Stadion stöhnte auf. Einige der Spieler vom MSV fielen zu Boden. Ich hatte Angst, dass der Schiedsrichter nicht abpfiff. In dieser Enttäuschung wäre gegen den MSV sogar noch ein weiteres Tor möglich gewesen.
Die Reader´s Digest-Version musste als wesentliche Elemente des Spiels die massive Abwehr der Rostocker beinhalten, das überlegte und kontrollierte Spiel des MSV Duisburg, das dennoch nicht zum Erfolg führt. Die Tore fielen als Ergebnis von Einzelleistungen. Was nicht überrascht, wenn beide Mannschaften eine sehr gut aufeinander abgestimmte Defensive zeigen. Der MSV war spielerisch besser. Trotz der tief stehenden Rostocker Mannschaft gelang es ihr immer wieder, den Ball in Tornähe zu bringen. Diese spielerischen Möglichkeiten hatte es zu Beginn der Saison nicht gegeben. Allerdings musste der MSV ein hohes Risiko eingehen, weil diese Rostocker Mannschaft gefährlich konterte, sowie früh und intensiv presste.
Dieses Unentschieden hatte den Nachgeschmack einer Niederlage. So groß gewesen war die Hoffnung zu gewinnen. Dieser Nachgeschmack verhindert auch, die Leistung von Martin Dausch und Kingsley Onuegbu so zu feiern, wie es beide Spieler eigentlich verdient hätten. Beide zeigten auf ihre jeweils eigene Weise spielerische Qualität, Ballsicherheit und Willen auf dem Platz, die einen Aufstieg nötig macht, damit wir sie in der nächsten Saison in Duisburg weiter sehen werden. Wie Martin Dausch sich den Ball vor dem 1:0 nahm, in die Lücke der Abwehrreihe hineinstieß und er den Körper gegen die Laufrichtung zum Schuss drehte, das war nicht nur wegen des Tores einer der großen Momente des Spiels. Selbstverständlich erzielte Kingsley Onuegbu das 2:1 auf eine andere Weise. Doch auch darin zeigten sich seine gesamten spielerischen Qualitäten dieser Zeit, seine Ballbehauptung auf engstem Raum, seine überraschenden Bewegungen, mit denen er den Ball dorthin bringt, wo ihn die Gegenspieler nicht erwarten. Das alles macht er mit einer Ruhe, die ihm den Torschuss ermöglichte. Großartig.
Die Medien erzählen nun, das 2:2-Unentschieden sei ein Rückschlag gewesen im Kampf um den Aufstieg. Ich finde das Wort unpassend, sobald wir wissen, dass auch die Konkurrenten um den Aufstieg noch gegeneinander spielen, Rostock etwa ihr Gegner sein wird und wir uns an die Spielanlage des MSV klar erinnern. Wir müssen akzeptieren, es wird kein klarer, deutlicher Weg nach oben. Es ist aber weiter alles möglich – sagt auch mein Tabellenrechner.
Etwas mehr als zehn Minuten am Ende des Spiels vom MSV Duisburg gegen die SpVgg Unterhaching haben ein halbwegs zufriedenes bis leise murrendes Fußballpublikum gespalten. Vereinzelte Pfiffe hatte es schon zur Halbzeitpause gegeben. Dann der Schlusspfiff, der MSV gewinnt 1:0, und das erleichterte Seufzen fast aller auf den Rängen nutzen nicht wenige Zuschauer zur Hintergrundmelodie für ihre improvisierten Pfeifeinlagen.
Unbekannt ist das Thema nicht: Das Duisburger Publikum möchte oft gerne früh seine Unzufriedenheit loswerden. Es ist sehr kritisch. Es kann seine Fußballer heiß lieben, ihnen das Leben in Duisburg aber auch zur Hölle machen. Mich machten die letzten zehn bis fünfzehn Minuten des Spiels ebenfalls sehr unzufrieden, aber das Spiel wurde gewonnen. Was nutzt es zu diesem Zeitpunkt der Saison die jederzeit schnell vorhandene Unsicherheit der Mannschaft noch zu verstärken? Das darf nicht sein. Geht ohne Beifall nach Hause! Schimpft unter euch, macht eurem Ärger irgendwo mit irgendwem Luft, aber pfeift doch nicht während und nach dem Spiel die sich mühende und erfolgreiche Mannschaft aus, wenn ein Aufstieg noch möglich ist und sie alle Unterstützung für das Erreichen dieses Ziels braucht. Die Verantwortlichen vom MSV können natürlich unabhängig vom Spiel ebenfalls dazu beitragen, dass sich der Unmut in Grenzen hält. Dazu morgen mehr.
Wie gesagt, auch ich bin unzufrieden nach Hause gefahren. Ich hatte keine Erklärung dafür, dass die Mannschaft des MSV zum Ende des Spiels uns tatsächlich noch um den Sieg hat zittern lassen. In der Halbzeitpause hatte es doch mit dem Auftritt der Musical-Darstellerin Judith Lefeber – hier mit Proben ihres Könnens bei youtube – ein vorbildhaftes Beispiel für einen durchweg herausragenden, souveränen Auftritt gegeben. Die Mannschaft aber kennt bislang nur einen wie Mickie Krause genauer und bleibt auf dessen Niveau stecken. Für so einen ist der Bühnenauftritt eine Art Körperertüchtigung, der läuft, klatscht und arbeitet richtig auf der Bühne, um das Publikum auf seine Seite zu kriegen, ohne es wirklich in seinem Innersten zu berühren. Dann kommt endlich einer der Kracher für die Stimmung an, und schließlich bemüht er sich mit dem Abklatsch davon den Auftritt irgendwie rumzubringen. So ähnlich kam mir das Spiel des MSV Duisburg vor.
Mit dem Unterschied, dass Mickie Krause dickfellig genug ist, sein Programm gnadenlos und locker bis zum Ende durchzuziehen. Zu dieser Coolness findet die Mannschaft des MSV Duisburg nicht. Ihr Selbstbewusstssein kann sich jederzeit verflüchtigen, wenn die einzelne Spielaktion ergebnislos verläuft und der vorgegebene Weg gefährdet scheint. Unsicher wirkte die Mannschaft zum Schluss, ängstlich und voller Sorge, dass dieser harmlose Gegner ein Tor erzielen könnte. Andererseits war diese Unsicherheit auch auf den Rängen überall spürbar. Der Ausgleich von Großaspach gegen Münster wird um die 80. Minute herum eingeblendet. Der Spieltag lief blendend für den MSV, doch im selben Moment wurde ein Freistoß in Tornähe des MSV für Unterhaching gepfiffen, und meine Freunde und ich schauen uns nur wissend an. Einer spricht es aus: Jetzt fällt normalerweise der Ausgleich. Das Duisburger Selbstbewusstsein war überall einmal mehr abhanden gekommen.
Dieses Selbstbewusstsein hatte es lange gegeben. In der ersten Halbzeit spielte die Mannschaft im Grunde sicher und kontrolliert, auch wenn das nicht mitreißend war und nicht zwingend überlegen wirkte. Dennoch verhinderte der MSV ein sinnvolles Offensivspiel der Unterhachinger. Die Mannschaft zwang den Gegner zu langen Bällen, die von der Defensive überlegen abgelaufen wurden. Konnte doch einmal ein Unterhachinger Offensivspieler den Ball in der Hälfte des MSV erreichen, stand da immer noch Thomas Meißner unspektakulär im Weg, und schon hatte er den Ball erobert.
In der Offensive wurde zufriedenstellend kombiniert. Den Torschüssen mangelte es aber an Härte. Es entstand der Eindruck, der MSV müsse eigentlich längst führen, so harmlos wie die SpVgg Unterhaching wirkte. Diese Führung erzielte Zlatko Janjic erst in der zweiten Halbzeit durch einen Elfmeter. Nach einem Eckstoß war der Ball einem Unterhachinger Abwehrspieler an die hochgereckte Hand geflogen. Zlatko Janjic nahm den Ball und ich begann zu bangen. Mein Vertrauen in seine Treffsicherheit war angegriffen, weil seine Leistung im Spiel selbst überschaubar gewesen ist. Doch Janjic verwandelte sicher.
Einer Mannschaft auf klarem Aufstiegskurs wäre nun kurz danach das zweite Tor gelungen. Dem war nicht so. Erst Dennis Grote, dann Michael Gardawski wurden eingewechselt. Doch beide spielen weiter unter den Möglichkeiten, die sie in Duisburg schon einmal gezeigt haben. Das Offensivspiel wurde allmählich immer zerfahrener. Es nutzte auch nicht mehr, dass Kingsley Onuegbu aus einem Pass im Moment die Geschwindigkeit mit jedem Körperteil herausnehmen kann. Egal, mit welcher Stelle seines Körpers er den Pass annimmt, der Ball bleibt lang genug dort kleben, damit ihn der „King“ gegenüber den Gegenspielern behaupten kann. Es bahnte sich das Zittern um den Sieg an. Gemischte Gefühle sind das Ergebnis. Aber was zählen Gefühle? Wichtig sind die drei Punkte. Jeden weiteren Gedanken, etwa an zukünftige Gegner wie Preußen Münster oder Holstein Kiel, muss ich mir allerdings sofort auch verbieten.
In dem Spielbericht vom WDR fehlt ein MSV Duisburg, der sich in den letzten zehn bis fünfzehn Minuten zu tief in die eigene Hälfte hat drücken lassen
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