Mit großer Wucht trifft der zuletzt veröffentlichte Roman von Dominique Manotti über die Wirklichkeit von Marseille im Jahr 1973 auf die deutsche Gegenwart. Oft begnügen sich historische Kriminalromane mit Kulissenschieberei zum unterhaltenden Zeitvertreib. Dominique Manotti dagegen schreibt Texte der Aufklärung mit der Nebenwirkung Unterhaltung. Marseille.73 heißt ihr Roman, der auch ein Krimi ist, vor allem aber eine genaue Erzählung über die Arbeit im Polizeiapparat und die widerstreitenden, zum Teil politisch motivierten Kräfte bei der Aufklärung von rassistischen Verbrechen.
Elf Jahre nach der Unabhängigkeit Algeriens sind eingewanderte Algerier immer wieder Opfer von Gewalttaten. Südfranzösische Unternehmen nehmen die billigen Arbeitskräfte zwar gerne, doch durch ein Gesetzesvorhaben in Paris wird deren Aufenthaltsstatus prekär. Nationalisten und Rechtsextremisten fühlen sich dadurch in ihrem rassistischen Denken bestätigt. Sie handeln immer radikaler, was nichts anderes bedeutet als gewaltvoller. Algerische Migranten werden ermordet. Ermittelt wird, wenn überhaupt, wenig. Für die Öffentlichkeit bleiben die Taten Auseinandersetzungen im Einwanderermilieu. Weil mit Kommissar Daquin ein Ortsfremder seine Arbeit in Marseille aufnimmt, wird die eingespielte Abwicklung gestört.
Das französische Original hat einen schön bebilderten Clip zur Werbung erhalten, in dem die Geschichte von Dominique Manotti kurz vorgestellt wird. Der Argument Verlag hat ihn mit Untertiteln versehen. Voilá!
Da die Einbindung nicht funktioniert, hier der Link.
Dominique Manotti nutzt eine Momentaufnahme aus der französischen Geschichte quasi-dokumentarisch, um mit ihr vor allem einen Blick auf das System Polizei zu werfen, das Rassismus begünstigt. Sie macht verständlich, warum Ermittlungen nicht vorurteilsfrei erfolgen, selbst wenn nur wenige Polizisten im rechtsextremen Milieu zu Hause sind. Da geht es dann auch um den Ruf der Polizei, um Korpsdenken, um Macht im Apparat und um Politik. Für deutsche Leser wirkt trotz aller Unterschiede zwischen politischen Hintergründen und dem Aufbau der Polizeiinstitutionen beider Länder dieser Blick angesichts der Erinnerung an die Ermittlungen bei den NSU-Morden erhellend und beklemmend.
Um das rassistische Geschehen genau schildern zu können, verzweigt sich die Geschichte in viele Bereiche der Marseiller Gesellschaft. Dominique Manotti nutzt dazu ein großes Personal und verwebt viele, oft kurz bleibende Handlungsfäden. Dennoch schafft sie einen Sog der Spannung, wenn auch die Lektüre manchmal ein Nachblättern von Namen erforderte. Ihre karge, pointierte Sprache schafft das nötige besondere Tempo für einen solch komplex angelegten Roman. Ihre Figuren werden selbst in kurzen Skizzen lebendig. In diesen Räumen konnte man Dominique Manotti schon mit ihrem Fußball-Roman Abpfiff kennenlernen. Wer das verpasste, sollte mit Marseille.73 nun den Anfang machen, um eine Quasi-Dokumentaristin und Sprachkünstlerin der französischen Romanliteratur zu entdecken.

Dominique Manotti
Marseille.73
Aus dem Französischen von Iris Konopik.
Gebunden, 400 Seiten. Ariadne 1247.
ISBN 978-3-86754-247-0
€ 23,00
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