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Das Kartellamt und das Selbstbild des deutschen Profifußballs

Es ist zwar schon ein paar Tage her, dass das Interview mit dem Präsidenten des Kartellamts Andreas Mundt in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde, aber diese elegante Spitze von ihm gegen den Profifußball möchte ich euch nicht vorenthalten.

Das Interview wurde geführt, nachdem das Bundeskartellamt veröffentlichte, wie es die 50-plus-1-Regel wettbewerbsrechtlich bewertet. Die Prüfung geschah auf Bitten der DFL hin. Die sportpolitischen Ziele dieser Regel wurden nicht in Frage gestellt. Problematisch seien aber die Ausnahmeregeln für die TSG Hoffenheim, Bayer Leverkusen und den VfL Wolfsburg.

RB Leipzig ist ein Sonderfall, da der Verein formal nicht von der 50-plus-eins-Regel ausgenommen ist. Im Interview warf Andreas Mundt allerdings die Frage auf, ob die sportpolitische Zielsetzung mit der findigen Auslegung des Vereinsrechts bei RB Leipzig zusammen passe. Seiner Meinung nach müsse auch das bei der DFL mitdiskutiert werden.

Schön war es zu lesen, wie beiläufig und elegant er die besondere Rolle, die dem Fußball in der Gesellschaft zugemessen wird, ins Leere laufen ließ. Die DFL hat nun eine Aufgabe. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn der Fußball nun mal zum Wirtschaftszweig der Unterhaltungsindustrie geworden ist, gilt es eben auch entsprechende Regeln zu beachten. Der gern genommene Ausweg ist das Verweisen auf die kulturelle und soziale Bedeutung, die entsprechende Sonderbehandlung ermöglichen soll. So geht das seit Gründung der Bundesliga. In diesem Spannungsfeld bewegen auch wir Anhänger uns.

Süddeutsche Zeitung Nr. 146, 29. Juni 2021
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Gastbeitrag: Klaus Hansen überfällt die „Postsaisonale Melancholie“

In gewisser Weise geht es heute schon wieder um eine Debatte – nämlich die, wie sich der Fußball als Unterhaltungsbranche entwickelt und was dabei verloren geht. Nachdem sich Klaus Hansen über den Aufstieg des MSV gefreut hatte, wurde er wehmütig und hat die Gründe dafür im Fußball der Gegenwart gefunden. Dabei hatte er zunächst nur über die Spielweise des MSV nachgedacht. Allerdings muss ich hinzufügen, Klaus Hansen hatte das letzte versöhnliche Spiel gegen Zwickau noch nicht gesehen, als er den Text geschrieben hatte. Der Sozialwissenschaftler Klaus Hansen kommt seit der ersten Bundesliga-Saison zu den Spielen des MSV. Mehrmals waren in diesen Räumen hier schon Gastbeiträge von ihm zu lesen.

Postsaisonale Melancholie

Paul Auster sagt, dass es im Sport „Gewinner und Verlierer gibt“; aber das ist banal. Nicht banal und geradezu tiefgründig ist seine Feststellung: Im Sport gibt es „viel mehr Verlierer als Sieger“. Eine Erkenntnis, die selbst auf höchster Erfolgsstufe gilt: Bayern München hat 27mal die die Deutsche Fußballmeisterschaft errungen – 83mal aber nicht. Real Madrid hat 11mal das europäische Championat gewonnen – 51mal aber nicht. Brasilien ist 5mal Weltmeister geworden – 15mal aber nicht.

Was Paul Auster nicht wissen kann, weil er Amerikaner ist und die großen amerikanischen Sportarten kein Unentschieden kennen, ist die Tatsache, dass nicht verloren haben muss, wer nicht gewonnen hat. Der genossenschaftlichen Punkteteilung sei Dank! (Leider durch die 3-Punkte-Regelung verwässert.) Das Remis erlaubt es sogar, dem Nichtverlieren Priorität vor dem Gewinnen einzuräumen.  Dazu passt natürlich die Zielsetzung für die kommende Saison in der 2. Liga: nicht absteigen!

Ans Gewinnen denkt in Meiderich schon lange keiner mehr. – Wie kann ein Verein ohne Titel, dem der Glauben abhanden gekommen ist, je auch nur einen Titel von Belang erringen zu können, vor seinen Fans, zumal den nachkommenden, bestehen? Indem er ohne Unterlassung für Spannung sorgt. Schon seit Jahren ist der Abstiegskampf in der Bundesliga spannender als der Meisterschaftskampf, und darum interessanter.

Sorgt für Spannung, Zebras, und überwindet den „Beamtenfußball“ dieser Saison, geht Risiko ein, macht Dinge, für die euch der liebe Gott nicht vorgesehen hat! Und wenn es nach unten geht, aber spannend, bleiben auch die Fans bei der Stange. Denn mit eben dieser Spannung kann es auch wieder nach oben gehen. – Dies schreibt ein Herzensfan, der alle ökonomischen Belange des modernen Fußballs hier einmal außen vor lässt.

Aber wir alten Fans, die wir zwischen 60 und 70 sind, kommen alle aus dem Amateurfußball, der uns geprägt hat. Vielleicht ist es gut, dass wir aussterben. Denn der Berufsfußball kann mit uns und wir mit ihm wenig anfangen. Die neuen Fußballfans sind von ESC-Fans nicht mehr zu unterscheiden. Die neuen Stadion-Sprecher – siehe RB Leipzig – sind von glamourösen Show-Moderatoren des Unterhaltungsfernsehens auch nicht mehr zu unterschieden. Das geht alles in eine Richtung, die nicht mehr meine Richtung ist. Das Schlimme ist die Ausweglosigkeit. Ich gehe zu einem Spiel letzten Kreisklasse Rhein-Erft, wo man nicht mehr absteigen kann, weil es darunter nichts mehr gibt. Aber auch da tragen die Spieler Trikots mit Sponsoren-Namen auf der Brust; selbst da bedankt man sich vor dem Anpfiff über Megaphon beim edlen Spender, „der für das heutige Spiel den Ball zur Verfügung gestellt hat.“ Der Fußball als Werberahmenprogramm ist nicht mehr mein Fußball.

Die nächste Legendenweg-Etappe für Fans und Mannschaft

Je größer das Glück, desto weniger brauchen wir die Worte. Es genügt ein kurzer Moment, der Anlass zur Erinnerung gibt und schon ist alles wieder da. Das Foto vom Torjubel Giorgi Chanturias mit seinem nackten Oberkörper taucht im Info-Strom des Netzes auf und sofort sehe ich seinen Antritt parallel zur Strafraumgrenze, umringt von roten Trikots, ich sehe seine enge Ballführung, den Durchbruch in den Strafraum hinein, diese plötzliche Lücke, die sich auftut, den freien Weg auf den Torwart. Hart wird Chanturia von der Seite angegangen, kommt einmal kurz ins Straucheln und läuft weiter.

Er ist wieder da, der bange Moment, in dem die Zeit still stand, der Bruchteil einer Sekunde, in der die Wirklichkeit für mich ein psychodelisches Bildergemisch wurde. In diesem Bildergemisch strauchelt sich ein Chanturia schon zu Boden, während ein anderer Chanturia weiterläuft, allerdings mit Kingsley Onuegbus Gesicht und dessen Hautfarbe. Den Schuss vom Onuegbu-Chanturia pariert der Leipziger Torwart wie die Großchance von Onuegbu selbst in der ersten Halbzeit. Den Elfmeterpfiff sehe ich als Folge und spüre Tränen der Enttäuschung schon brennen, während der Jubelschrei in tiefer Kehle aus mir herausdrängen will. Aller angehaltene Atem will raus. Unsere Oberkörper beugen sich nach vorne. Nun schieß! Und tatsächlich bringt Giorgi Chanturia den Ball rechts am Leipziger Torwart vorbei. Das so ersehnte Tor zur Führung ist wirklich geworden.

Den nackten Oberkörper von Giorgi Chanturia habe ich erst heute morgen gesehen. In unserem kaum enden wollenden Jubel verloren wir das Spielfeld völlig aus dem Blick. Alles tobte durcheinander. Drei, vier Stufen rauf und runter wogten wir, mit jedem feiernd, der in der Nähe war. Jubel. Freude. Reines Glück. Das ersehnte Zwischenziel, der Relegationsplatz, so nah. Nun war es egal, welche Ergebnisse die anderen Mannschaften erzielten. Doch noch waren 15 Minuten zu spielen.

Die Führung war verdient, und sie war zudem gegen eine Leipziger Mannschaft herausgespielt worden, die in diesem Spiel noch ein Ziel hatte. Wie angekündigt wollte diese Mannschaft in Duisburg gewinnen. Doch der MSV hielt von Anpfiff an dagegen. Sorgen bereitete uns das schnelle Leipziger Kurzpassspiel und die technischen Qualitäten fast aller Leipziger Spieler. Doch in der ersten Halbzeit ließ der MSV diese mannschaftlichen und individuellen Qualitäten nicht zur Entfaltung kommen. Die Leipziger Spieler waren sichtlich genervt von den früh angreifenden Duisburger Spielern. Sie wurden nicht in Ruhe gelassen. Eine wirkliche Torchance erspielten sie sich nur in der 3. Minute. Es war die einzige brenzlige Situation für Marcel Lenz, die er souverän löste.

Überhaupt strahlte Marcel Lenz eine beeindruckende Ruhe aus. Das ist nicht selbstverständlich, wie wir alle wissen. In so einem bedeutsamen Spiel überhaupt zum ersten Mal in der Saison eingesetzt zu werden, kann eine Belastung sein. Marcel Lenz hat sofort zu seinem Rhythmus gefunden und bot der Mannschaft Rückhalt durch seine Ausstrahlung.

Die großen Chancen zur Führung hatte der MSV in dieser ersten Halbzeit. Nach wunderbarem schnellen Passpiel über drei Stationen, das Kingsley Onuegbu selbst eingeleitet hatte, lief er frei auf den Leipziger Torwart zu. Der parierte seinen Schuss in die rechte untere Ecke mit einem großartigen Reflex. Diesen Reflex packte er nach einem freien Schuss von Stanislav Iljutcenko im Strafraum noch einmal aus. Aufschrei der Enttäuschung, zum zweitern. Zetern, Hadern. Beschwören des Fußballgotts.

Wer solche Chancen vergibt. Den Satz vollendeten wir in der Halbzeitpause lieber nicht. Dennoch schwebte die leise Sorge über uns, das Vergeben könne sich rächen. Die Sorge wurde größer, als in den ersten Minuten der zweiten Halbzeit der MSV noch nicht wieder so ins Spiel fand, wie es für die Kontrolle der Leipziger fußballerischen Qualität nötig war. Die Spieler wurden nicht mehr früh genug angegangen und schon fand das Spiel vor allem in der Duisburger Hälfte statt. Die Mannschaft kam nicht mehr für längere Zeit an den Ball. Eigene Angriffe fanden nicht mehr statt.

Nun geschah etwas, was in Duisburg nicht oft passiert. Das gesamte Publikum spürte, diese Mannschaft braucht Unterstützung und zwar nicht nur die Unterstützung des Stimmungsblocks. Diese Manschaft braucht das ganze Stadion, und das Stadion war da. Das Anfeuern aus der Nord wurde auf den Geraden aufgegriffen, und es wurde laut. Pausen bei diesem Anfeuern gab es nicht mehr. Ununterbrochen wurde nun die Mannschaft zu jener Stärke getrieben, die sie in der ersten Halbzeit gezeigt hatte. Die Spieler rannten wieder jenen Meter mehr, der nötig war, um den Leipzigern unangenehm zu werden. Das Spiel verlagerte sich wieder raus aus der Hälfte der Duisburger und um die 60 Minute herum, war die zuvor gesehene Stärke wieder da.

Selten ist es so klar erkennbar gewesen, dass ein Sieg des MSV Duisburg auch ein Sieg des Publikums gewesen ist. Wenn die Geschichte dieser Saison tatsächlich mit einem guten Ausgang zu erzählen ist, dann wird dieser Sieg auch als ein Sieg des Zusammenhalts von Zuschauern und Mannschaft zu erzählen sein. Noch ist dieser Sieg erst eine Zwischenetappe auf dem Weg zum Klassenerhalt. Noch sind zwei Spiele zu spielen. Es ist schon viel erreicht worden mit diesem Sieg gegen Leipzig, etwas was vor wenigen Wochen kaum einer für möglich gehalten hat. Doch dieser Sieg ist Zwischenetappe; ein Sieg der zudem notwendig war, weil der TSV 1860 München wie befürchtet gegen den FSV Frankfurt verloren hat.

Um die 87. Minute herum machte die Nachricht von der Frankfurter Führung bei uns die Runde. Noch einmal zitterten wir, noch einmal erinnerten wir uns kurz an all die späten Ausgleichs- und Niederlagentore, die wir je in diesem Stadion gesehen hatten. Doch hielt sich das Zittern in Grenzen. Der MSV behielt die Spielkontrolle bis zum Schlusspfiff. Die nächste Etappe wartet nun. Auf gehts Zebras, lasst uns das Wunder Klassenerhalt vollenden.

 

Nicht an Sonntag denken, um den Sonntag zu erleben

In meinem Alter hat einem der eigene Körper nur bei sehr viel Glück und seltenenen genetischen Anlagen Erfahrungen mit den Segnungen der Medizin erspart. Nur der Deutlichkeit halber, es sind Segnungen. Wir Älteren kennen etwa noch den Zahnarztbesuch im Wissen ums mögliche Bohren ohne reibungsmindernden Wasserfluss am Zahnarztbohrer sowie der schmerzlindernden Spritze. Manche OP wurde bewältigt, manche Ungewissheit von diagnostischen Verfahren ertragen.

Das Spiel des MSV Duisburg gegen RB Leipzig am kommenden Sonntag weckt in mir kurioserweise dasselbe Verhalten, wie es sich bei mir in solchen möglicherweise körperlich unangenehmen Begegnungen mit den Segnungen der Medizin einstellte. Ich versuche bis zum Tag x, jeden Gedanken an das Ereignis selbst zu vermeiden. Zu groß ist die Sorge vor den erwarteten Schmerzen. Am Tag selbst aber bin ich auf eine Weise konzentriert und gefestigt, die es mir ermöglicht, jeden Moment des Geschehens mit vollem Bewusstsein wahrzunehmen und mit allem, was kommt, umzugehen.

Der Ausfall von Viktor Obinna macht es für mich noch notwendiger, die Beschäftigung mit dem Spiel des MSV gegen RB Leipzig erst am Sonntag zu beginnen. Auch was der Rotebrauseblogger schreibt, brachte keine Gelassenheit. Im Grunde bestätigt er nur mein eigenes Denken, das ich nur nicht in Worten formuliere, weil es die Aura des schlechten Vorzeichens mit sich bringt. Aber wenn er das macht, kann ich schnell den Gegenzauber sprechen und alle guten Geister des Pott-Fußballs beschwören, damit seine Prognose der SC Paderborn hätte es am Sonntag sehr viel einfacher als der MSV Duisburg nicht wirklich wird. Ja, im Grunde bestätigt er zudem meine Befürchtung, wie ernst es RB Leipzig am Sonntag noch sein wird.

Lassen wir das also, viel lieber denke ich bis Sonntag daran, dass in meinem Leben bei all meinen sorgenvollen Zeiten mit den Segnungen der Medizin am Ende alles gut ausgegangen ist. Ich lebe noch. Wenn sich der MSV daran vielleicht ein Beispiel nehmen könnte für einen nächsten Schritt auf dem Weg zum entsprechenden Zweitligaschicksal.

Fieberfantasien mit Tabellenrechner

Am Montag begann meine Erkältung mit starkem Husten und heftigem Krankheitsgefühl. Sie nahm einen für mich klassischen Verlauf. Der leichten Besserung am zweiten Tag folgte Fieber am dritten. Da lag ich also im Bett, war genervt, las zuweilen etwas ohne Konzentration, döste ein, guckte wach werdend, was Facebook und Twitter mir ins kranke Leben reinschickten und langweilte mich immer mal wieder. Mir war heiß – trockene Hitze auf der Haut in müder Unruhe.

Plötzlich hörte ich ein Flüstern: „Weißt du noch, wie es schon zweimal war? Du warst Gott der Zweiten Liga.“

Oh, nein, dachte ich, das glaube ich jetzt nicht.

Das Flüstern wurde lauter. „Der Tabellenrechner“, raunte es, „Du hast es in der Hand. Die Mannschaft braucht dich. Jetzt, in diesem Moment. Mach es!“

„Das hilft doch nichts“, warf ich ein, „jetzt doch nicht mehr. Die Ausgangslage war damals beide Male sehr viel besser“.

„Unsinn“, hörte ich, „das denkst du nur. Hast du nicht gerade noch geschrieben, die Mannschaft spielt inzwischen so, dass ein Platz im unteren Mittelfeld kein Problem gewesen wäre, wenn sie von Anfang an  so aufgetreten wäre?“

Jetzt diskutierte ich mit der Wand über den MSV. Ich fasste es  nicht und rief: „Ich habe aber auch geschrieben, diese Mannschaft kann ein Spiel nicht unbedingt gewinnen. Sie braucht Glück. Glück! Manchmal klappt’s auch, wenn sie gar nichts mehr zu verlieren hat.“

„Und? Ist es etwa gerade anders?“, raunte es beruhigend.

Die Seite vom Kicker war bereits geöffnet. Wer machte so etwas? Ich starrte über den Laptopbildschirm hinweg ins Leere und hörte immer weiter diese Stimme. „Ein Sieg gegen Heidenheim. Fang klein an.“

Ich traute meinen Ohren nicht. Der letzte Rest gesunder Verstand meldete sich zaghaft, während die Stimme immer hoffnungsfroher klang: „Sechs Punkte. Du packst das. Acht Punkte! Quatsch Relegation. Klassenerhalt. Streng dich an.“

„Aber…“, begann ich und hatte schon das 1:0 gegen Heidenheim eingetippt. Weiter ging es, und wenn ich mir das heute morgen alles ansehe, habe ich in meinem Fieberwahn nur ein einziges ganz unwahrscheinliches Ergebnis vorgegeben, sieht man mal davon ab, dass Siege vom MSV in gewisser Weise grundsätzlich wenig wahrscheinlich sind in dieser Saison. Dieses sehr unwahrscheinliche Ergebnis ist ein Sieg des MSV gegen RB Leipzig, denen ich am letzten Spieltag eine mächtige Aufstiegsfeierlaune verordnet habe. Dafür gab es in Sandhausen ein Unentschieden. Notfalls lässt sich das noch tauschen. Relegationsrang habe ich geschaffft als Zweitliga-Gott im Fieberwahn per Tabellenrechner.

Seht selbst. Und wenn ich dann bei diesem dritten Male meines göttlichen Tabellenrechner-Daseins mit der Saisonziel-Gelingensprognose zum ersten Mal scheitern sollte, hat´s mir zumindest dabei geholfen, wieder gesund zu werden.

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Eine Niederlage wie ein Unglück

Das Spiel des MSV Duisburg gegen RB Leipzig war zu Ende, und ich musste raus. Ich musste mich bewegen. Ich musste auf andere Gedanken kommen. 4:2 hatte der MSV verloren, nachdem die 2:1-Führung in der 80. Minute geglückt war; nachdem die Mannschaft in der ersten Halbzeit ein 1:1-Unentschieden gegen alle Wahrscheinlichkeiten gehalten hatte; nachdem RB Leipzig innerhalb der letzten 5 Minuten 3 Tore erzielte. Diese Niederlage des MSV Duisburg gegen RB Leipzig fühlte sich nach dem Schlusspfiff für mich wie ein großes Unglück an. Ich fuhr nach Altenberg, wo an diesem zweiten Adventswochenende traditionellerweise das halbe Umland zum Weihnachtsmarkt zusammenkommt.

Es war voll, ich sah ein paar Kölner Bekannte, doch das Unglück dauerte an. Ihr kennt diesen ungläubigen Schrecken vielleicht, wenn man mit etwas Gegenwärtigem beschäftigt ist und dann urplötzlich das verdrängte Geschehen wieder in den Sinn kommt? Ein Blick hin zum Altenberger Dom, und rumms sprang eine vier mir in den Sinn. Doch alles in mir sträubte sich an die Wirklichkeit der Niederlage zu glauben. Für einen winzigen Moment befand sich das Spiel dann in einem Niemandsland zwischen Ungeschehenem und Irrealem. Für einen winzigen Moment fühlte es sich so an, als hätte es diese Niederlage nie gegeben. Den twitternden Onlineredakteuren der Funke-Gruppe ging es übrigens ebenso.

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Dieser winzige Moment verging und mit großer Wucht traf mich erneut die Enttäuschung. RB Leipzig spielte in der ersten Halbzeit klar besser als der MSV, dennoch hielt der MSV mit sehr viel Glück und entschlossener Defensive dagegen. Die einzige Torchance nutzte Kevin Wolze mit einem wunderbaren Distanzschuss von knapp außerhalb des Strafraums zur Führung. Wenn man es sich recht überlegt, deutete sich schon in dieser ersten Halbzeit an, dass die Mannschaft mit einer Führung nicht gut klar kam. Sie hatte unverhofft einen Schatz in der Hand und von da an bekam sie Angst, diesen sagenhaften Schatz wieder zu verlieren. RB Leipzig spielte ungerührt weiter und versuchte sich im schnellen Kombinationsspiel in den Strafraum zu spielen. Das gelang für diese spielerische Überlegenheit eigentlich nicht oft genug. Was wiederum für die defensiven Qualitäten des MSV sprach.

Nach der Führung aber verschwand der kleine Rest Mut zur Offensive vollends. Vor dem Ausgleich hatte RB Leipzig vier oder fünfmal erfolglos versucht sich an die Strafraumgrenze zu spielen. Doch jeder vom MSV eroberte Ball wurde sofort wieder abgegeben. Überhastet gingen sämtliche kurzen Pässe direkt zurück zum Gegner. Es gab keine Atempause mehr für die Defensive und es war nur eine Frage der Zeit bis zum Ausgleich.

Als der Ausgleich gefallen war, war alles wieder gut. RB Leipzig spielte zwar überlegen weiter, doch Pässe des MSV kamen zumindest bei einer weiteren Station wieder an, ehe der Ball wieder verloren ging. So blieb genügend Zeit, um die Defensive wieder zu sammeln. Nach der Halbzeitpause wurde es noch besser. Thomas Meißner war für Giorgi Chanturia gekommen. Die spielerische Überlegenheit von RB Leipzig verpuffte nun fast vollends. Die Mannschaft kam aus dem Spiel heraus kaum mehr gefährlich vor das Duisburger Tor. War es eine klare Leipziger Chance noch, bei der dem MSV die Abschlussschwäche von David Selke beim Kopfball zu Hilfe kam? So konnte um das Unentschieden mit einer Hoffnung auf das gute Ende gezittert werden. Als dann Kevin Scheidhauer nach einem wunderbaren Konter über Tim Albutat sogar das 2:1 erzielte, schien diese Hoffnung noch berechtigter.

Fünf Minuten hielt die Führung. Dann kam die erste Ecke, nach der der Ausgleich fiel. Es schien mir so, als ob in dieser Standardsituation einfach zu viel Zeit blieb, in der die Spieler Angst vor Fehlern entwickeln konnten. Sie wirkten nicht entschlossen genug bei diesen Standards. Die Enttäuschung über den Ausgleich war der Mannschaft anzumerken. Noch einmal hatten sie diesen sagenhaften Schatz schon in der Hand gehabt, und nun wurde dieser Schatz der Mannschaft erneut entrissen. Deshalb war auch das Unentschieden kaum mehr zu halten, weil diese Enttäuschung die Konzentration gefährdete. Zwei Minuten später folgte der nächste Eckstoß und das Führungstor der Leipziger fiel. Der Schatz des Auswärtssieges war endgültig zum schönen Traum geworden, nicht einmal mehr ein Rest Goldstaub war geblieben. Das vierte Tor der Leipziger war nur noch das Sahnehäubchen für das Heimpublikum. Ein Ausgleich wäre nie und nimmer gelungen.

Angesichts des Spielverlaufs ist das Ergebnis eine große Enttäuschung, eben ein Unglück, das ich nicht wahrhaben wollte. Realistisch betrachtet habe ich mit keinem Punkt gerechnet. Also, Perspektivwechsel ist angesagt für die Mannschaft und für uns, damit berechtigtes Selbstvertrauen auch aus diesem Spiel gewonnen werden kann.

Zum ausführlichen, sehr guten Spielbericht aus Leipziger Sicht beim Rotebrauseblogger mit einem Klick

Wenn Ralf Rangnick an den deutschen Fußball denkt, hat er die 3. Liga längst vergessen

Für einen Anhänger des MSV Duisburg klingt es verdammt ironisch, wenn Ralf Rangnick sich um den deutschen Fußball sorgt. Momentan passiert ja nicht viel in Fußballdeutschland. Deshalb hat nahezu jede Tageszeitung seine Worte, geäußert in einem Interview mit dem Kicker, aufgegriffen. In England habe jeder Aufsteiger in die Premier League  von vornherein 150 Millionen Euro zur Verfügung. Das ist aber auch so viel Geld mehr als Trinkzeugs-Unternehmer Dietrich Mateschitz jemals durch Dosenverkauf erwirtschaften kann, damit die Mitarbeiter all seiner Marketingprojekte zufrieden sind. Das ist einfach so unvorstellbar viel mehr Geld als etwa die acht Millionen Euro, die RB Leipzig für Davie Selke gezahlt hat, um ihn von Werder Bremen zu verpflichten.

Bei so viel Geld in englischen Vereinen wird doch jeder mittelmäßige Spieler bald aus der Bundesliga weggekauft, und gerade in Leipzig gibt es ja eigentlich nur bessere als mittelmäßige Spieler. Alle weg. Alle in England. Demnächst. Dann muss Ralf Rangnick schon wieder acht oder zehn Millionen in die Hand nehmen, um hier einem Erstligisten einen Nachwuchsspieler abzukaufen, dort dem klammen Zweitligisten den Torjäger oder in Skandinavien einen jungen Spieler, der auf die internationale Karriere hofft.

Aber das ist in den Augen von Ralf Rangnick offensichtlich was anderes. Da geht es um den nationalen Markt, und Trinkzeugs-Geld ist auch kein TV-Geld. TV-Geld wird ja unter allen verteilt, und Trinkzeugs-Geld kriegt einer nur, wenn er was Gutes daraus macht. Was wirklich Gutes, und das ist echte Arbeit im Gegensatz zum Alimente-Betrieb in England. Ich habe mich übrigens über RB Leipzig bislang nie aufgeregt. Ein Geschäftsmodell unter vielen. Dieser Fußballunterhaltungsbetrieb steckt eben voller Widersprüche. Nur, dass Ralf Rangnick zu diesem Thema Budgetunterschied im internationalen Vergleich besser den Mund gehalten hätte. Wenn ich wieder einmal von ihm so was höre, fange ich doch noch an, das ganze Marketingkonstrukt in Haftung zu nehmen. Dann vergesse ich ganz schnell, dass es für viele Leipziger inzwischen richtig um Fußball geht, und dass sich da irgendetwas noch nicht ganz so Festes, Kulturelles gelöst hat von diesem Trinkzeugs-Gedöns.

Diese TV-Geld-Geschichte kann man nämlich auch ganz anders sehen als Ralf Rangnick. Heute morgen lese ich in der Süddeutschen Zeitung, dass Christian Heidel, der Manager von Mainz 05, die finanzielle Übermacht englischer Vereine generell nicht fürchte.  Mehr sogar: Vereine, die potentiell Spieler abgeben, könnten sich über die neue Konstellation freuen. Ach ja, er fügt auch noch hinzu, jene, die teure Spieler kaufen, die könnten sich nicht freuen. Ralf Rangnick war immer schon sehr ehrgeizig.

Saisonvorbereitung: Die Aufsteiger zur 2. Bundesliga und ihre Platzierungen

Jetzt kann ich es ja sagen. Den Link als Grundlage für diesen Text über die Platzierungen der Zweitligaaufsteiger habe ich schon zu Beginn der letzten Saison ins Archiv gelegt. Vorarbeit leisten, wenn alles gut ausgeht für den MSV. Ihr seht, manchmal fordere ich das Schicksal wagemutig heraus. In der letzten Saison stieg RB Leipzig erstmals in die Zweite Liga auf. Der Rotebrauseblogger schreibt über den Verein und machte sich vor dieser ersten Zweitligasaison seines Vereins vor der Saison einige Arbeit. Mal sehen, wo die Zweitliga-Aufsteiger in all den Jahren am Ende gelandet sind, so hieß der selbst gestellte Arbeitsauftrag.  In seinem lesenswerten Text wertet er die Aufsteigerplatzierungen seit der Saison 1994/1995 aus und zieht daraus entsprechende Schlüsse für die Chancen der Aufsteiger, die man sich im einzelnen am besten per Weiterklicken dort anschaut.

Hier will ich nur eins herausgreifen: Bei dem für den MSV ausgegebenen Saisonziel ist eine Zahl sicher am interessantesten: 52 von 76 Aufstiegen endeten mit dem Klassenerhalt. Zählt man die Aufsteiger aus der letzten Saison hinzu, wird daraus 55 Klassenerhalte von 79 Aufstiegen. Hoffnung macht außerdem, dass es meist nicht die großen Vereine waren, die direkt wieder abstiegen. Andererseits gehörte Arminia Bielefeld im letzten Jahr dazu, und die Strukturähnlichkeit dieses Vereins mit dem MSV ist uns ja bekannt. Es ist wie immer mit Statistiken, sie lasssen sich so und so deuten.

Die letzte Saison bot statistisch gesehen ohnehin  ein besonderes Ergebnis, weil der SV Darmstadt 98 der Durchmarsch in die Bundesliga gelang. Das war bis dahin fünf Vereinen gelungen, vier davon stiegen allerdings vor 1999 direkt auf. Nur der TSG Hoffenheim gelang danach noch einmal der Durchmarsch. Der Rotebrauseblogger zieht daraus den berechtigten Schluss, dass viel Geld für den Bundesligaaufstieg nötig ist und selbst dazu noch etwas hinzukommen muss.  Denn die TSG Hoffenheim brauchte trotz großen Budgets in der 3. Liga mehrere Anläufe für den Zweitligaaufstieg. Der Aufstieg des SV Darmstadt 98 ist deshalb auf zweierlei Weise die Ausnahme von der Regel. Zum einen geschah der Aufstieg mit bescheidenen finanziellen Mitteln, zum anderen ohne große Vorbereitungsspielzeiten in der 3. Liga. In der Saison 2011/2012 war der Verein gerade erst in die 3. Liga aufgestiegen und spielte fortan erst einmal in der unteren Tabellenhälfte, zum Teil gegen den Wiederabstieg.

Weshalb ich  – und wahrscheinlich noch einige andere –  sofort an Kosta Runjaic denken muss. Er trat zu seiner Zeit beim MSV in der Öffentlichkeit sehr nüchtern auf, doch vielleicht kann er im Privaten dem Leben seine ironischen Züge abgewinnen. Der Aufstieg seines Ex-Vereins gibt ihm jedenfalls die Möglichkeit dazu. Als der MSV Duisburg ihn aus seinem Vertrag bei Darmstadt heraus verpflichten wollte, verließ er Darmstadt sicher wegen der vermeintlich besseren Aussichten in Duisburg. Der Zwangsabstieg kam dazwischen. Doch mit dem 1. FC Kaiserslautern fragte sofort ein anderer Verein mit noch viel größerem Potential für den Bundesligaaufstieg an. Doch dann steigt eben jener Verein in die Bundesliga auf, den Kosta Runjaic drei Jahre zuvor wegen der besseren Aussichten anderswo, verlassen hat. So viel zum Thema „planbares Leben“.

Zurück zu den Zweitligaaufsteiger-Bilanzen – noch einmal: wer sich in die genaue Statistik vertiefen will, dem sei das Weiterklicken zum Rotebrauseblogger empfohlen. Hier nur noch kurz das Resumée für alle Aufsteiger der letzten Saison. Das waren der 1. FC Heidenheim als Erster der Drittligasaison 2013/2014, RB Leipzig als zweitplatzierter Verein und besagter SV Darmstadt 98, der als als Drittplatzierter sich in der Relegation gegen Arminia Bielefeld durchsetzen konnte.

Auch die zwei anderen Aufsteiger spielten die Zweitligasaison souverän mit. Bei RB Leipzig war das zu erwarten gewesen. Wenn nicht von Anfang an so doch recht schnell muss Ralf Rangnick als sportlicher Leiter sogar den Durchmarsch in die Bundesliga als Ziel vor Augen gehabt haben. Früh war aber auch zu sehen, dass die Chancen darum nicht gut standen. Der Verein wurde Fünfter. Folgerichtig setzt sich Ralf Rangnick für diese Saison wieder auf die Trainerbank. Wenn etwas nicht klappt wie gewünscht, muss man es eben selber machen. Auch der 1. FC Heidenheim machte von Anfang an mit dem Erfolg der Drittligasaison weiter. Schon in der Hinrunde in der oberen Tabellenhälfte platziert, landete der Verein am Ende auf dem achten Platz. Hoffen wir, diese letzte Saison wird für den MSV Duisburg vorbildhaft.

Kausalkettenspieltag

Wenn RB Leipzig keine Lizenz für die 2. Liga erhält, und wenn der SV Darmstadt 98 im Relegationspiel gegen den 16. der 2. Liga gewinnt, und wenn der SV Wehen Wiesbaden das Auswärtsspiel gegen Hansa Rostock verliert, und wenn der VfL Osnabrück das Auswärtsspiel gegen Jahn Regensburg verliert, erhält ein Sieg des MSV Duisburg gegen Preußen Münster große Bedeutung.

Davon ab gefiele mir ein Sieg im letzten Heimspiel dieser Saison auch ohne Bedingungsgefüge.

Update: Nach dem samstäglichen Einkauf fällt mir auf, bei der Überschrift mischte der Wunsch als Vater des Gedanken doch kräftig mit. Kausal ist das Ganze ja erst, wenn alles eingetroffen ist.  Kollege Freud lässt grüßen. Vorher: nix kausal, bis dahin konditional

Halbzeitpausengespräch: RB Leipzig und die andere mögliche Fußballgeschichte bei Erich Loest

Eigentlich war es anders geplant. Eigentlich wollte ich heute einen sicheren Aufstiegsgruß nach Leipzig schicken, um diesem Aufstieg etwas wirklich Gutes abzugewinnen: Aufmerksamkeit für den 1926 geborenen und 2013 gestorbenen Schriftsteller Erich Loest. Sein großes Lebensthema waren die Wirklichkeit der DDR insbesondere die in Leipzig, die deutsche Teilung und Wiedervereinigung. Nun kommt es  anders, besser, der Aufstieg von RB Leipzig ist nicht mehr so sicher, weil die DFL die Zweitliga-Lizenz verweigerte. RB-Financier Dietrich Mateschitz polterte herum, machte sein Fußballprojekt nicht gerade sympathischer und noch mehr Menschen interessieren sich nun für das Geschehen rund um RB Leipzig. Ein paar von ihnen werden mit Sicherheit von Google nach Veröffentlichung des Textes nun auch hier vorbei geschickt. Um so besser für das Werk von Erich Loest. Danke DFL, Danke Dietrich Mateschitz, Danke RB Leipzig.

Mein Gruß nach Leipzig ist eine Erinnerung an den dortigen Fußball der Vergangenheit. Erich Loest schildert in seinem Roman „Nikolaikirche“ das Geschehen vor der Montagsdemonstration in Leipzig am 9.Oktober 1989, die ein Wendepunkt für die Geschichte der DDR werden sollte. Die Handlung füllt Erich Loest mit vielen Details des Alltags und des Geschehens damals, um die Besonderheit dieser Zeit fassbar zu machen. Der Fußball ist ihm in einer kleinen Szene Sinnbild für diese Zeit. Dazu muss man wissen, die Anhänger der beiden Leipziger Fußballvereine Lokomotive Leipzig und BSG Chemie Leipzig waren aufs Tiefste verfeindet. Ihr ahnt, wie Erich Loest diese Feindschaft symbolhaft nutzt? Kurz vor der Demonstration erlebt eine der Hauptfiguren des Romans folgende Szene:

[…] und so gab sie das vierte Blatt zwei jungen Männern, denen nicht anzusehen war, auf welcher Seite sie standen. Drei Jugendliche vor dem Kaufhaus waren schon eher einzuordnen, der eine trug einen weißgrünen ‚Chemie‘-, der andere einen blaugelben ‚Lok‘-Schal, heute waren sie keine Rivalen. Einer schaute sie verblüfft an und bedankte sich.

Erich Loest, Nikolaikirche, 1995, dtv-Ausgabe 1997, 505

Wenn schon tief verfeindete Fußballfans friedlich nebeneinander stehen, wie stark muss dann der Zusammenhalt der Bürger der DDR gegen die Staatsmacht sein? Nicht dass ihr denkt, hier arbeitet jemand mit dem Holzschnitt. Es ist nur ein winziger Moment im Roman, der das Romangeschehen an die Realität binden soll. Als Gruß hier ist dieser winzige Moment auch eine Erinnerung daran, dass in Leipzig das Potential für eine andere Geschichte vorhanden war, eine Geschichte, in der Dietrich Mateschitz keinen Platz gehabt hätte. Eine Teilstrecke dieses Weges wurde mit dem VfB Leipzig ja versucht.

An anderer Stelle im Roman klingt auch ein Grund für die Feindschaft zwischen den beiden Vereinen an, und wir sehen, die heutigen Großunternehmen sind damals SED-Politiker:

Vor sich hörte er, die rabiate Politik gegen die Fußballer von ‚Chemie‘ sei an vielem Schuld; der Mann sagte ‚Schemmie‘ und betonte es auf der ersten Silbe. Sie hätten den traditionsreichen Arbeiterverein systematisch kaputtgemacht. Die Namen der Helden ‚Chemie‘ klangen wie die von Heiligen: Manne, Walter, Schere und natürlich Bauchspieß.

Erich Loest, Nikolaikirche, 1995, dtv-Ausgabe 1997, 513

Auch wenn „Nikolaikirche“ durch die Verfilmung vielleicht das populärste Werk von Erich Loest wurde, wirkt dieser Roman durch Loests Absicht, die Zeit vor der entscheidenden Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in möglichst vielen Perspektiven zu zeigen weniger literarisch als andere seiner Romane. Schlaglichter erhellen die Vorgeschichte und machen mit vielen Figuren die zum Teil gegenläufigen und vielschichtigen Geschehnisse dieser Zeit fassbar. Er nähert sich mit dieser Form einem Dokumentarroman. Literatur bedeutet hier nur die Freiheit, Figuren zu typisieren und anzuordnen, um die Vielfältigkeit des Geschehens emotional greifbarer zu machen.

Erich Loest schrieb realistische Literatur mit starken Geschichten, ohne die Psychologie seiner Figuren aus dem Blick zu verlieren. Er war ein eigenwilliger Querdenker, der sich der politischen Einordnung entzog. Sieben Jahre saß er in Bautzen ein, ab 1957 wegen angeblicher „konterrevolutionärer Gruppenbildung“. Nach der Haftentlassung begann er unter Pseudonym Kriminalromane zu schreiben. Für ihn war es ein Broterwerb, und erst 1977 erschien unter seinem Namen mit „Es geht seinen Gang oder die Mühen der Ebene“ ein Roman, der für ihn wieder eine wirkliche Bedeutung hatte.  Dessen erste Auflage in der DDR war innerhalb kürzester Zeit ausverkauft. Eine zweite Auflage kam zwar nach längeren Auseinandersetzungen auf verschiedenen Ebenen mit der Staatsmacht in den Verkauf. Danach wurde er aber verboten. Es war ein Roman, der immer wieder abgetippt wurde, ein Roman, für dessen einzelne Exemplare in privaten Zirkeln Wartelisten für den nächster Leser angelegt wurden.

Dieser Roman war bei seinem Erscheinen ein unerhörtes Ereignis in der DDR.  Viele dachten, wenn so etwas veröffentlich werden konnte, dann gab es noch Hoffnung für die Entwicklung der DDR. So etwas, das war die Geschichte eines Familienvaters von Anfang 30, der von seinem Leben nichts anderes wollte als in Ruhe gelassen zu werden. Er wollte seinen Beruf gut ausfüllen, er wollte ein guter Vater sein, ein guter Ehemann. Mehr nicht. Seine Frau aber wollte, dass er ein Aufbaustudium macht.  Staatsvertreter wollten, dass er Prinzipien der Macht über die der persönlichen Einsicht stellt, und so beginnt dieser junge Familienvater, ohne es wirklich zu wollen, quer zu der Gesellschaft zu stehen. Wofür es in der Gesellschaft der DDR keinen Platz gab.

Zwangsläufig kam es zu Auseinandersetzungen um den Roman. Die Staatsführung sah sein Erscheinen als Fehler an. Die Leser focht das nicht an. Sie waren begeistert über diesen Roman. Nach den Auseinandersetzungen um den Roman siedelte Erich Loest  1981 in die BRD über. Er war eigener Kopf, der regelmäßig aneckte. Er wollte Wirklichkeit möglichst genau beschreiben und vergaß dabei das Unterhaltungsbedürfnis seiner Leser nicht. Wenn ihr nur einen einzigen Roman von Erich Loest lesen wollt, dann  empfehle ich euch „Es geht seinen Gang oder die Mühen der Ebene“. Mit diesem Roman gelang es Loest beeindruckend sowohl eine starke Geschichte zu entwickeln, die Figuren psychologisch tief zu zeichnen und nicht zuletzt die Wirklichkeit der DDR  Mitte der 1970er Jahr plastisch und eindrücklich zu schildern. Dieser Roman ist trotz seiner Bindung an die DDR-Wirklichkeit zeitlos gültig. Menschen wie dieser junge Familienvater bekommen mit ihrer Haltung Schwierigkeiten auch in einer Gesellschaft, die vom kapitalistischen Ehrgeiz getrieben wird. Wer dann noch eine Art „Making of“ lesen möchte, den Blick hinter die Kulissen der Kulturpolitik der DDR und des pragmatischen Handelns eines Autors, der veröffentlichen will, der lese von Erich Loest „Der vierte Zensor“, die Dokumentation zu besagtem Roman. Mit zwei Büchern die ganze DDR erzählt!


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