In der 75. Minute des Spiels vom MSV Duisburg beim SV Sandhausen begann ein Teil dieses Körpers MSV für diese Saison abzusterben. Ich gehörte dazu. Das 2:0 für Sandhausen war gerade gefallen, und der Abstieg schien nach all der hochfliegenden Hoffnung der letzten Wochen doch wirklich zu werden. Ich lehnte an dem Gitterzaun des Stehplatzes, konnte mich nicht mehr rühren, war taub und blind geworden. War ich in dieser Lähmung angesteckt worden, drohte ich andere anzustecken? Einzelne Teile des Körpers hatten sich schon zwangsamputiert und gingen den Fußweg Richtung Parkplatzgrab, das sich zwischen mehreren Äckern der Sandhäuser Bauern befand.
Andere Teile des Körpers konzentrierten jede noch vorhandene Kraft, um die Vitalfunktion des MSV aufrecht zu erhalten. Auf den Rängen wurde immer noch angefeuert, aber der vielstimmige Chor war auseinander gefallen in einzelne kleine Inseln, wo Lebensenergie noch pumpte, und das herausgeschieene EM-ES-VAU wirkte wie ein verzweifeltes Aufbäumen gegen das nahe Ende. Das Zentralorgan dieses Körpers aber, die Mannschaft, schien vom nahen Ende nur insofern etwas mitzubekommen, als es immer stärker arbeitete und arbeite, um genau diesem Ende zu entgehen. Dieses Zentralorgan war weiter auf das Überleben ausgerichtet.
An welcher Stelle des Körpers MSV ich mich gerade befand, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall an einer Stelle, die nicht mehr zur Verarbeitung von Sinneseindrücken fähig war. Wie das Anschlusstor durch Nico Klotz in der 80. Minute fiel, kann ich nämlich aus der Erinnerung heraus nicht sagen. Für mich war es ein Geschenk des Lebens an das Leben. Der Körper MSV war von jetzt auf gleich in sämtlichen Zellen revitalisiert.
Das Stadion war in Duisburger Hand, und dieses Stadion peitschte nun die Spieler des MSV nach vorne. Waren es zwei oder drei Angriffe, die nach dem Anschlusstor aufeinander folgten? Der Rhyhtmus der Ränge und die Laufduelle auf dem Spielfeld befeuerten sich gegenseitig. Der Ball kam in die Nähe des Sandhäuser Strafraums, ohne dass es den Zebras gelang, vor das Tor zu kommen. Doch den nächsten Angriff konnten wir ja sofort erwarten. Ich weiß nicht mehr, ob es der eingewechselte Thomas Bröker war, der am linken Flügel vorbeizog, dabei mit seinem Gegenspieler im Laufduell immer wieder aufeinanderprallte, Arme hielten und dennoch schaffte er es diesen Gegenspieler zu überlaufen. Doch zu wenige Mitspieler lauerten in der Mitte. Der Rückpass kam doch, und mit letztem Einsatz erreichte – wer eigentlich? – den Ball, um sofort umgegrätscht zu werden. Führte diese Spielaktion zum Freistoß in der 83. Minute? Selbst das weiß ich nicht wirklich.
Der Verlauf der Saison macht es mir unmöglich, dieses Spiel in der Abfolge seiner bedeutsamen Ereignisse zu erinnern. Mir bleibt während des Spiels kein einziger Moment der Ruhe mehr, um irgendetwas, was ich gesehen habe, mal kurz in einen Zusammenhang zu bringen. Aus der ersten Halbzeit ist der Pfostenschuss von Kingsley Onuegbu als große Möglichkeit zur Führung mir in Erinnerung. Der MSV war vorsichtig offensiv und ließ die bekannte Konterstärke der Sandhäuser kaum einmal zur Geltung kommen. Zwei Ausnahmen hat es gegeben. Doch die Abschlüsse der Sandhäuser per Kopfball und Schuss von der Strafraumgrenze gingen am Tor vorbei. Der MSV spielte noch nicht risikoreich genug, um wirklich torgefährlich zu werden. Dennoch hatte die Mannschaft das Spiel einigermaßen im Griff.
Das änderte sich etwa zehn Minuten nach Wiederanpfiff. Die Defensive stand nicht mehr so sicher. Sandhausen kam besser ins Spiel. Die zwei Sandhäuser Tore fielen allerdings jeweils nach Eckbällen. Was die Stimmung zusätzlich belastete, wirkte die Defensive in diesen beiden Situationen doch lethargisch und wenig präsent. Solche Eindrücke bleiben mir als vereinzelte Erinnerung. Das meiste steht nebeneinander, wirft mich hin und her, führt zu heillosem Entsetzen bei den Gegentoren oder wie in dieser 83. Minute zum zweiten Mal in dieser Saison nach dem Siegtor gegen 1860 München zu einem irrsinnigen, eskalierenden Jubel, der nicht aufhören wollte.
Zentral vor dem Tor, zwei, drei Meter außerhalb des Strafraums war der Freistoß gepfiffen worden. Giorgi Chanturia lief an, schoss und dann war der Ball drin, irgendwie abgelenkt, genau habe ich auch das nicht gesehen. Genau erinnere ich nur noch, wie wir auf den Rängen das Stadion in ein Tollhaus verwandelten. Die Bierbecher flogen. Zebras sprangen sich in die Arme, hüpften ununterbrochen, rissen ihre Arme immer wieder hoch. Verzerrte Gesichter. Ungläubiges Schreien. Eine Begeisterung wurde hinausgebrüllt in die Welt, getragen von der Kraft alles Lebendingen. Es war unfassbar laut. Der Jubel hielt an. Der Ausgleich brachte alle Möglichkeiten zu überleben wieder zurück.
Noch gab es sogar die Hoffnung auf den Sieg. Weiter nach vorne, weiter nach vorne, hieß die Devise nun für beide Mannschaften. Meine Angst blitzte auf, die Spieler könnten überdrehen in dieser kochenden Stimmung. Die Konter des SV Sandhausen drohten. Das Spiel wogte nun hin und her. Trotz des Drucks vom MSV kamen die Sandhäuser in diesen letzten Spielminuten zu den klareren Chancen. Waren es zwei oder drei Schockstarren, aus denen mich erst die Angriffe des MSV wieder herausrissen? Der Schlusspfiff hinterließ bei mir eine komische Stimmung zwischen Euphorie und Enttäschung. Wie konnte ich beides zusammen spüren? So gehen wir mit dem MSV durch diese Saison. Je größer die Hoffnung jeweils ist, desto tiefer kann die Enttäuschung treffen. So hoch waren wir gestiegen, so tief waren wir zwischendurch gefallen und nun sehen wir dem letzten Spieltag entgegen – und hoffen weiter.
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