Meidericher Kanon des literarischen Fußballs – 1. Sammy Drechsel

Einen indirekten Vergleich möchte ich an den Anfang stellen. Einen Vergleich, damit die mögliche Bedeutung einer erfundenen Geschichte für ein Leben sofort verständlich wird. Mancher mag diesen Vergleich unpassend finden. Das Risiko muss ich eingehen. Ich weiß nämlich, wo ich war, als die Mauer fiel. Ich weiß, wo ich war, als der Terror das World Trade Center zum Einsturz brachte, und ich weiß auch, wo ich war, als ich vom Tod Sammy Drechsels hörte.

Damals, am 19. Januar 1986, dieses Datum allerdings musste ich nachschlagen, damals also, lief im Schlafzimmer meiner ersten Kölner Wohnung das Radio, während ich irgendwas wegräumte. Es war Nachrichtenzeit, doch den Sprecher hörte ich erst bewusst, als seine Stimme jenen etwas getrageneren Ton annahm, der eine Todesnachricht erwarten lässt. Mit dieser Nachricht überstürzte mich eine Traurigkeit, deren Grund ich wusste, die mich in ihrer emotionalen Wucht aber überraschte.

Sammy Drechsel, Leiter und Regisseur der Münchner Lach- und Schießgesellschaft, war im Alter von 60 Jahren gestorben. Überrascht war ich, weil Sammy Drechsel in meinem Alltag schon Jahre nicht mehr präsent war. Weder als Jugendlicher geschweige denn als Student beschäftigte ich mich mit jenem politischen Kabarett, von dem ich meinte, dass sich dort die Generation meiner Eltern heimisch fühlte. Ich verstand aber, warum mich diese Traurigkeit überfiel. Ich trauerte um den Kinderbuchautor Sammy Drechsel, der mir auf eine Weise nahe gekommen war, wie kein anderer Autor der von mir gelesenen Bücher.  Ich trauerte um Sammy Drechsel als meinen Freund aus Kindertagen Heini Kamke im Fußballroman „Elf Freunde müßt ihr sein … „.

Dieses Buch war für eine lange Zeit ein Teil meiner Heimat. Offensichtlich hatte diese Heimat in mir überdauert und inzwischen weiß ich längst, dass etwas davon bis heute in mir lebendig ist. Unzählige Male hatte ich diesen Kinderroman gelesen, um schließlich nur noch zu den  emotionalsten Stellen von vermeintlich dauerhafter Niederlage und dem dann doch folgenden Triumph Heini Kamkes und seiner Mannschaft als mein Best-of zu blättern.

Die Nähe ergab sich nicht allein aus meiner intensiven Lektüre. Ich muss es mitbekommen haben, dass dieser Kinderroman autobiografisch gefärbt war. Sammy Drechsel hieß mit bürgerlichem Namen Karl-Heinz Kamke und die Geschichte, die er in „Elf Freunde müsst ihr sein …“ erzählte, gleicht in groben Zügen seiner eigenen Geschichte. Heini Kamke ist Schüler der „2. Klasse in der 5. Volksschule Berlin-Wilmersdorf“ und damit etwa 13 oder 14 Jahre alt. Ich müsste das Buch ganz nachlesen, ob das Alter irgendwo genannt wird. Zum Alter muss man nämlich wissen, in den 30er Jahren, als die Geschichte spielt, wird die Zählung der Schuljahre in zur heutigen Zeit umgekehrten Reihenfolge als Bezeichnung der Klassen genommen. In die 2. Klasse gehen demnach die Schüler ein Jahr vor ihrem Schulabschluss. Natürlich ist deshalb der Unterricht für die Jungen wichtig, doch wichtiger ist der Fußball.

Was in heutiger Bildungsdiskussion immer wieder zum Thema wird, nämlich die notwendige Offenheit des pädagogischen Konzepts für Alltag und Neigungen der Schüler, war damals anscheinend Schulprogramm an der 5. Volksschule – zumindest in der erfundenen Geschichte. So werden, als die Lehrer die Bedeutung des Fußballs für ihre Schüler erkennen, im Mathematikunterricht etwa bei Lehrer Peters Tabellen zur Berliner Fußballmeisterschaft berechnet, und im Deutschunterricht dient die Möglichkeit, Fußball zu spielen, als zusätzliche Motivation. Denn die Klassenmannschaft will nach der Versetzung an der Fußballmeisterschaft der Berliner Schulen teilnehmen. Den wenig interessierten Direktor kann der Deutschlehrer aber nur mit den guten Leistungen der Fußballspieler überzeugen.

Natürlich gibt es auf dem Weg zu dieser Meisterschaft allerlei Rückschläge. Ein wichtiges Spiel wird verloren, ein sehr guter Spieler verletzt sich schwer, Trikots müssen trotz fehlenden Geldes erworben werden oder Eltern nehmen die Hoffnungen der Fußballer nicht ernst. Doch immer gibt es einen Ausweg, den die Jugendlichen entweder aus eigener Initiative oder mit Hilfe eines Erwachsenen finden.

„Elf Freunde müsst ihr sein …“ besticht durch die perfekte Dramaturgie. Da gibt es das große zu erreichende Ziel, die Meisterschaft, da sind die zu überwindenden Schwierigkeiten der mittleren Strecke, wie etwa das Geld für die Trikots zu sammeln, und immer wieder erzählt Sammy Drechsel auch kleine Szenen, die als Miniaturen für sich genommen schon spannend sind. Deshalb besitzt der Roman eine Dynamik und Spannung, die sich mit jeder heute geschriebenen Literatur messen kann.

Doch Sammy Drechsel baut nicht nur auf die handwerkliche Perfektion seines Schreibens. Lebendig wird sein Roman durch die Psychologie seiner Figuren. Sowohl Heini Kamke als Hauptfigur und Individuum vollzieht eine Entwicklung als auch die Fußball spielenden Schüler als soziale Gruppe. Rückschläge müssen eingesteckt werden. Hochnäsigen Gegnern wird eine Niederlage beigebracht. Die Aussöhnung mit gegnerischen Spielern findet statt. Vertrauen zu Erwachsenen muss entwickelt werden. Die nun haben Verständnis und sind da, wenn die Not am größten ist.

Sammy Drechsel gestaltet Beispiele von gelungenen zwischenmenschlichen Beziehungen, doch ideal sind die Verhältnisse nicht. Der Roman spielt in Zeiten wirtschaftlicher Not. Die Menschen sind arm, Kinder wachsen als Halbwaisen auf und dennoch vermittelt das Buch unaufdringlich Optimismus. Denn Sammy Drechsel geht es nicht zuerst um eine Botschaft, ihm geht es um eine gute Geschichte und dass diese gelungene Geschichte nebenbei Werte tradiert, mag ein Anlass gewesen sein, diese gute Geschichte zu schreiben.

Nicht zuletzt macht er das Fußballspiel selbst zum Teil der Handlung. Entscheidende Teile des Romans lesen sich wie Spielberichte in Sportzeitungen. Natürlich ist die geschilderte Wirklichkeit von der heutigen weit entfernt. Doch es zeichnet „Elf Freund müsst ihr sein …“ als Klassiker aus, dass auch heute noch Kinder vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen das Buch als interessant erleben. Der Roman hat auch meinem Sohn gefallen, weil auf eine überzeitliche Weise Fragen und Schwierigkeiten einer Kindheit thematisiert werden. Es gehörte zu jenen Büchern, in denen mein Sohn vom Abbild des Menschlichen und nicht allein von Exotik oder Spannung gepackt wurde.

Als ich begann, mir  Gedanken zu machen, welche Werke im „Meidericher Kanon des literarischen Fußballs“ auf keinen Fall fehlen dürfen, waren meine Überlegungen hellgrün eingefärbt. Darüber brauchte ich nicht weiter nachzudenken, „Elf Freunde müsst ihr sein …“ mit dem stilisierten Rasen in hellem Grün auf dem Schutzumschlag, der Mannschaft in blauen Trikots und dem roten Balken an dessen unterem Ende müsste ganz am Anfang dieses Kanons stehen. Denn ich wusste,  „Elf Freunde müsst ihr sein …“ könnte zu einem Maßstab werden für alle noch kommende Literatur.  Das sollte deutlich geworden sein: Die Latte liegt hoch.

6 Kommentare

  1. Oh. Mir scheint es kaum möglich, hier unter meinem üblichen Pseudonym zu kommentieren, ohne mich der Blasphemie verdächtig zu machen.

    Dass ich es dennoch tue, liegt natürlich an meiner Freude über diesen Beitrag, den ich ganz offensichtlich viel zu spät entdeckt habe. Schön, dass es anderen mit diesem Buch ganz genauso erging (und ergeht) wie mir.

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  2. Weit entfernt scheint mir da Blasmephie zu sein. Gibt es doch den triftigen Grund für diesen Namen. Den Verdacht hatte ich natürlich schon, dass ich da vor einiger Zeit auf jemanden in Stuttgart gestoßen war, der sich an vergangener Lektüre weiterhin begeistert.

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