Ein Leben lang – Eine kurze Erzählung auch über Fußball

Leicht wankend stand er neben mir in der obersten Reihe der Gegengerade im überfüllten Wedaustadion. Der Regen hatte die Schultern seines Jacketts durchnässt und dunkel gefärbt. Ihm war das nicht wichtig. Ihm war es auch nicht wichtig, ob er genügend vom Spiel sehen konnte. Irgendwann schlurfte er zu einem der Bäume, die außen rundherum auf den Stehplatzrängen vor Jahrzehnten gepflanzt waren und stellte sich unter. Er starrte ins Leere, spürte in seinem Wanken den Baum im Rücken und lehnte sich an. Mühsam holte er etwas aus der Innentasche seines Jacketts hervor. Seinen Kalender? Ein Notizbuch? Das Aufblättern bereitete ihm Schwierigkeiten. Es war alles so nass vom andauernden Regen. Auf dem Rasen schien sich dem zunehmenden Raunen der Zuschauer nach ein erfolgversprechender Angriff vom MSV Duisburg anzubahnen. Ich drehte mich um und sah noch, wie der Ball am Tor vorbei rollte.

Mir missfiel es, ihn nicht an meiner Seite zu wissen. Nachher würden wir uns noch aus den Augen verlieren. Dennoch versuchte ich mich endlich auf das Spiel zu konzentrieren. Auf den Gegenangriff, den Schuss, den vergeblichen Abwehrversuch. Die anderen Zuschauer seufzten erleichtert auf. Auch vorbei. Der Blick zurück zum Baum. Er war weg.

Es war sein Vorschlag gewesen, gemeinsam zu diesem Spiel ins Stadion zu gehen. Nach der letzten Zeit war es das wichtigste. Vor zwei Wochen wusste er das auch noch. Nun war es ihm gleichgültig, wo wir gemeinsam standen. Befürchtet hatte ich das. Schon bei seinem Vorschlag war mir mulmig geworden. Weil wir zu spät gekommen waren, standen die Menschen in der obersten Reihe der Nordkurve schon zu dritt und viert hintereinander. Ich lief die Kurve entlang Richtung Marathontor. Keine Lücke fand ich, um an einem festen Platz das Spielfeld wenigstens halbwegs zu überblicken. Während ich mich umschaute, ob er mir folgen konnte, merkte ich weiter meine eckigen Schritte. Er gestikulierte fahrig, ich könne ruhig vorgehen. Dieses Spiel da unten lief schon, und ich fühlte meinen Körper. Eigentlich hätten meine Schritte alles im Stadion übertönen müssen. Jeder Muskel war angespannt, bereit für etwas, von dem ich nie wusste, was es sein sollte. Ich kannte das Gefühl. Ich kannte es nicht aus dem Stadion.

Ich war angereist aus Köln. Nicht einen Moment hatte ich mich an diesem Tag an der Uni konzentrieren können. Nach zwei Jahren in der Zweiten Liga gab es für den MSV Duisburg eine kleine Chance, wieder aufzusteigen. Dritter war der Verein geworden und spielte nun das erste von zwei Relegationsspielen gegen Eintracht Frankfurt, um in jene Erste Liga zurückzukehren, die für uns das normale Leben gewesen ist.

Sein Vorschlag hatte mich überrascht. Ich wollte natürlich ins Stadion. Aber mit ihm?

„Ja, klar. Doch!“

Das hatte ich wohl gesagt. Wie immer störte mich mein so kontrollierter Ton in solchen Momenten. Gewichte verteilten sich auf meinen Schultern. Sonst gingen wir nicht gemeinsam ins Stadion. Es hatte Ausnahmen gegeben. Drei Auswärtsspiele. Fast zehn Jahre war das Pokalendspiel her. Nach Hannover im Bus. Ein älterer Junge zwischen älteren Männern. Der Regen auch während dieses Spiels. Sein Jackett, das er schützend über mich hielt, als es losprasselte. Kurz hielten wir in der unüberdachten Kurve noch aus – in der Hoffnung, es bliebe bei einem leichten Schauer.

Immer noch nicht war er wieder da. Unruhig schaute ich Richtung Schwimmstadion, wo sich Toiletten befanden. Konnte er dorthin gegangen sein? Die Kurve gehörte doch den Frankfurtern. Dann sah ich ihn. Er hatte keinen Bierbecher in der Hand. An solch einem Gedanken hielt ich mich fest, obwohl ich wusste, dass das nichts bedeutete. Es ging immer weiter. Nur sein Schlaf würde heute nicht wie früher die Rettung für uns bringen. Bis zum Schlusspfiff waren es noch etwa 70 Minuten.

Eigentlich ging er niemals mehr ins Stadion. Lange Zeit wusste ich gar nicht, dass ihn etwas mit dem MSV Duisburg verband. Dann hatte er einmal von Heimspielen an der Westender Straße erzählt. In den 1950er Jahren, den Zeiten der Oberliga West. Damals sind sie sogar mit dem Fahrrad zu den Auswärtsspielen gefahren. Einmal bis nach Münster. In Erkenschwick waren sie. In Oberhausen sowieso. Immer mit dem Fahrrad. Ich versuchte manchmal ihn mir als Jugendlichen vorzustellen. Unbekümmert. Lachend. Zusammen mit Freunden. Ein Leben mit Zukunft. Er erzählte fast nie über diese Zeit.

Vielleicht half uns Kampf? Das war immer das Einfachste.

Spielerisch war die Eintracht besser. Schon wieder bahnte sich einer der schon vorher so gefährlichen Spielzüge an, und wenig später stand es 0:1. Die Chance auf den Aufstieg für den MSV war nicht sehr groß. Umso schöner war der Heimsieg, den ich mir ausgemalt hatte. Nun empfing ich die Enttäuschung als erwarteten ungebetenen Gast. Ich wies auf einen unbequemen Stuhl in der Ecke und hoffte, sie blieb kürzer, als ich es kannte. Irgendetwas kann immer geschehen. Das wusste ich durch jede gute Geschichte, die ich jemals gelesen hatte. Das fühlte ich im tiefsten Inneren. Ganz anders konnte es immer noch werden. Für uns alle.

Er stellte sich wieder neben mich und grinste. Ein arroganter Mund in einem harten Gesicht. Er fühlte sich lächeln. Ich wusste das. Innig verbunden fühlte er sich. Mein hölzerner Körper. Meine verschwundene Nähe. Mein Ringen, ein wenig lebendig zu bleiben. Als Ausweg versuchen, ins Spiel zu kommen. Das Scheitern. Meine Schuld. Ich starrte hinunter und musste nicht sprechen.

„Wird’s noch was?“, fragte er. Ich kannte seinen Blick, wenn nichts ihm anhaben konnte. Er spuckte auf die Welt und traf mich immer mit. Ich sah nur kurz zur Seite und zuckte die Schultern. Ein Angriffsversuch des MSV lenkte mich von der Qual ab, so abweisend gewesen zu sein.

Zu wenig gelang.

„EM-ES-VAU…“ Noch einmal wenigstens rufen, ehe der Chor schon wieder erstarb. Es war ein Aufbäumen in aller vertrauten Ohnmacht. Immer weiter. Immer weiter. Ein Leben lang. Fürs erste kam ich bis zum Halbzeitpfiff.

„Was zu trinken?“

Eine Frage, die ich schon immer fürchtete, wenn wir unterwegs waren.

„Oder ’ne Bratwurst?“

„Nein, nein. Keinen Hunger. Nein, nichts. Lass uns lieber hier bleiben. Wir stehen so gut.“

Väterfragen als spezielle Vaterfrage. Meine Antworten darauf gefielen mir nie. Ich wusste keine bessere. Ich wusste schon als kleines Kind, mir blieb alleine eine Möglichkeit. Das Wichtigste hatte ich immer im Blick. Ich hörte niemals auf zu hoffen, und manchmal waren wir früher tatsächlich an der Kneipentür vorbeigegangen, wenn ich nichts wollte. Ich, danach, fühlte mich erleichtert und schuldig, ihn betrogen zu haben. Nie hatte ich Durst oder Hunger in der Nähe von Bier. Mit überzeugenden Worten. Ich verheimlichte mich ihm. Nur so konnte ich das Schicksal manchmal zwingen. Das rettende Bild im Kopf, wie er bald einschläft und aufwacht als der andere Mensch.

„Wenn wir Glück haben, bleibt es dabei“, sagte ich. „Vielleicht gibt’s eine Überraschung im Rückspiel?“

„Nicht verlieren, geht noch“, sagte er und klang für einen Moment fast wieder nüchtern. Doch schon mit dem nächsten Satz war die Klarheit aus seiner Stimme wieder verschwunden.

„Was Neues in Köln?“

Kurz rieb er an seiner Wange. Dort hatte er sich beim Rasieren geschnitten – wie damals manchmal in Ruhrort, als ich ihm oft zusah. Auf meinem Schemel neben dem Waschbecken hatte ich ängstlich auf den Bluttropfen an seiner Wange gestarrt. Beruhigend lächelte er zu mir herunter. Dann riss er ein Fitzelchen Papier von einer Zeitungsseite ab und legte es auf die Wunde. Mitsamt Schemel zog er mich später vor das Waschbecken, gab mir den Rasierpinsel und die Seife für den Schaum. Ich mochte es, diesen Schaum zu verteilen. Wie Sahne im Gesicht. Behaglich. Den Rasierer legte er für mich bereit.

Er blieb nicht, wenn ich mir sorgsam den Schaum von meinen Wangen zog. Ich mochte diese erste deutliche Spur, die mir gelang. Ein breiter, genau sichtbarer Pfad Haut kam zum Vorschein. Nur dieses kratzende Geräusch vermisste ich. Wenn mein Vater sich rasierte, war es immer zu hören. Ohne Klinge kein Kratzen. Zu meiner großen Erleichterung war der Rasierer nie scharf, und doch hörte ich nicht auf, das Kratzen zu vermissen.

Während wir zum Rasen sahen, wo die Mannschaften wieder aufliefen, begann ich von Joseph Roth zu erzählen. Warum hatte ich mich ausgerechnet mit ihm beschäftigten müssen? Nichts hatte ich über ihn gewusst. Mühsam suchte ich nach Worten zu seinen Romanen, zur „Kapuzinergruft“, zu Österreich. Immer wieder geriet ich in diese lähmende Nähe des Unaussprechlichen. „Der heilige Trinker“. Joseph Roth, ein versinkender Mensch im Pariser Exil. Auf Fotografien aus dieser Zeit wirkte er wie ein Greis, ein hutzeliges Männchen von Anfang 40, immer ein Glas zur Hand. Anstoß. Endlich konnte ich wieder schweigen. Fußball. Deshalb waren wir da.

Noch hatte ein Ausgleichstor die Tür zum Aufstieg noch einmal öffnen können. Bald schon tauchte wieder Roland Wohlfahrt im Strafraum auf. Ich werde wohl auf Zehenspitzen gestanden haben. Der Ball hinter der Linie, doch nicht das ganze Stadion in Freude. Der Abseitspfiff schaffte Klarheit. Kam er mir zur Hilfe? Wie hätte ich Jubeln können? Offen sein für diese Freude und offen werden für alles andere? Unter Menschen, die mich nicht bemerkten. Nicht sie. Nicht er. Niemand war da. Und doch war ich enttäuscht. Ich wäre über den Ausgleich glücklich gewesen. Mich fürs erste zu retten, damit kannte ich mich aus.

Er berührte mich am Arm. „Ich bin gleich wieder da.“

„Muss das …?“, begann ich leise und sprach nicht weiter. Er lächelte schief, ganz kurz, gemeint als Beruhigung. So redete ich es mir ein. Auf dem Spielfeld ein Freistoß von halbrechts, gefährlich. Ich ahnte, was nun geschah. Das Frankfurter Freistoßtor sah ich ohne Enttäuschung. Keine Zeit war geblieben zu bangen. Fakten geschaffen. Der Rest des Spiels blieb noch auszuhalten. Ich ging nie vor dem Schlusspfiff. Eine Chance hatte der MSV nun nicht mehr. Als das dritte Tor für Frankfurt fiel, bemerkte ich den Selbstbetrug. Niemals finde ich mich ab. Immerzu hoffe ich weiter. Immerzu, ein Leben lang.

Er kam zurück. Winzigste Regungen in seinem Gesicht wahrnehmen, ohne zu beobachten. Dann beobachten und darauf warten, wie er was sagte, Tonfall studieren. Wie viel ist hinzugekommen. Fiel sein Verhalten jemand auf?

Möglichkeiten der Eintracht, mehr als genug. Jedes weitere Tor nahm ich gefasst hin. Starr. Schicht um Schicht sickerte alles Lebendige ins Innerste. Zurück blieb die Fassung, ein steinerner Körper. Der blickte auf das Spielfeld. Ein letzter hilfloser Schuss aus dritter Reihe von einem Duisburger Spieler. Der Schlusspfiff. Verloren mit fünf zu null Toren. Enttäuschung auf dem Spielfeld. Bei mir hatte sie keine Chance mehr.

Ich sah ihn an. Er nickte, und wir liefen mit der Menge Richtung Ausgang.

Kein Aufstieg. Das Rückspiel würde daran nichts mehr ändern. Für diesen Tag hörte ich auf zu hoffen. Bald aber sahen wir uns wieder. Ganz von alleine erschien mir jede Hoffnung dann wieder völlig vernünftig. In Ruhe zu Hause malte ich mir immer die Zukunft aus. Für mich, für uns alle, die wir im Stadion waren. Morgen kann es schließlich doch wieder anders werden. Das wusste ich durch jede gute Geschichte, die ich jemals gelesen hatte. Immer weiter. Immer weiter. Ein Leben lang.

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