Fragliche Erinnerungen an das Halbfinale gegen den BVB im April 1975

Am 30. April 1975 spielte der MSV das bislang einzige Mal gegen Borussia Dortmund im DFB-Pokal. Es war das Halbfinale, der MSV gewann 2:1 nach Verlängerung, und ich frage mich heute, ob das mein erstes Spiel war, bei dem ich abends mit den Freunden, ohne Begleitung von Erwachsenen mitten in der Woche ins Stadion durfte. Ich war 13 Jahre alt. Am nächsten Tag ging es früh in die Schule. Ich weiß es nicht mehr, weil meine einzigen mir unzweifelhaft scheinenden Erinnerungen an ein Abendspiel vom MSV gegen den BVB ein unfassbarer Torjubel und Panik sind. Beides ist an dem Abend möglich gewesen. Sicher bin ich mir nicht.

Wir standen damals im alten Wedaustadion immer rechts neben dem Marathontor mit Blick aufs Spielfeld, im Mob, wie der Platz im Stadion für Fans damals genannt wurde. Die anderen im Stadion waren Zuschauer und keine Fans. Im Mob standen wir mit blau-weißer Fahne und der Bereitschaft, die Mannschaft andauernd anzufeuern. In die „Kurve“ ging es erst später. Wir waren stolz darauf, im Mob zu stehen. Es war zudem aufregend, weil dort auch die Gefahr am größten war, von Fans des Gegners angegriffen zu werden. Das waren immer die Fans der Mannschaften aus dem Pott. Einen Schutz durch Ordner oder Polizei gab es damals nicht. Wir waren auf die Stärke der Älteren angewiesen. Wir kannten niemanden von diesen Älteren, und setzten darauf, irgendwie dazu zu gehören. Ich hatte immer wieder Angst, und natürlich versuchte ich, sie zu verbergen.

Nach dem Stadionbesuch waren wir immer stolz, heiser zu sein. Es gab uns das Gefühl, mitgekämpft zu haben. Wir gewannen und verloren gemeinsam mit der Mannschaft. Es gab keine kritische Distanz. Die einen spielten den Fußball, wir sorgten für Stimmung. Zusammen waren wir der MSV. Zusammen waren wir die Zebras. Wir gaben immer alles. Das überlegten wir uns nicht. Das machten wir so, weil es selbstverständlich war. Heiser zu sein, hieß aber auch, wir gingen alleine ins Stadion, ohne Begleitung von Erwachsenen. Wo wir uns aufhielten, das war unser Raum. Erwachsene hatten da nichts zu suchen.

Unsere Eltern interessierten sich zwar auch für Fußball und den MSV. Wir aber gingen in den Mob. Wir fühlten uns groß und unabhängig. Diese Unabhängigkeit spürten wir noch am ersten Tag nach einem Stadionbesuch in der Schule. Wir fühlten uns cool. So sagt man heute. Ich erinnere mich an kein entsprechendes Wort damals, das unser Lebensgefühl ausdrückte. Meine Stimme erholte sich nach den Bundesligaspielen fast immer vom Samstag auf den Montag. So konnte in der Schule niemand mehr hören, dass ich im Stadion war. Das war bei einem Freund anders. Der krächzte immer noch auch am Montag, und ich beneidete ihn dafür.

Ich weiß nicht, ob ich tatsächlich an jenem Pokalabend im Wedaustadion war. Ich kann mich an kein Gefühl des Sieges mehr erinnern. Ich frage mich, wo versteckt sich meine Freude, das Finale im DFB-Pokal erreicht zu haben? Anstattdessen spüre ich immer tief in mir diesen jähen Wechsel zwischen enthusiastischer Begeisterung und Panik während eines unkonkreten Abendspiels gegen den BVB. An diesem erinnerten Abend war es unfassbar eng im Mob. So eng war es zuvor noch nie gewesen. Ich trug einen Parka. Um meinen Hals war der blau-weiße Zwei-Meter-Schal gewickelt. Eine Freundin meiner Mutter hatte ihn gestrickt. Meine Fahne hatte ich nicht mitgenommen. Es war mir zu gefährlich gewesen, sie bei dem Abendspiel mitzunehmen. Ich hatte Sorge, sie würde mich behindern. Ich hatte auch Sorge, jemand könne sie mir klauen.

Wir waren früh im Stadion und standen an einem Wellenbrecher auf mittlerer Höhe der Stehplätze. Am linken Ende des Wellenbrechers war mein Platz, die Freunde standen rechts von mir. Meine fernen Erinnerungen der Begeisterung passen zum Spielverlauf – mit Klick zum Spielschema beim DFB. Der MSV lag lange 0:1 zurück. Fetzen der schwindenden Hoffnung auf Erfolg bekomme ich zu packen. Zwei Minuten vor Abpfiff fiel der Ausgleich durch Walter Krause, und ich spüre diese wogende Menge des Jubels. Diese Menge steht so eng, dass sie eins ist und jede Bewegung von der einen Seite sich fortsetzt auf den Nebenmann. Ich sehe kaum Bilder des Spiels, hin und wieder weht der Geruch des feuchten Rasens in meine Nase, und dann fällt ein Führungstreffer, erneut wogt die Menge. Sie beruhigt sich nicht. Jetzt noch einmal alles geben. Das Tor im Halbfinale erzielte Bernard Dietz.

Dieser Jubel geht in meiner Erinnerung sofort über ins Anfeuern. Noch kann alles passieren. Die erste Hälfte der Verlängerung ist noch nicht einmal zu Ende gespielt. Doch plötzlich gerät die Menge links von mir unter Druck. Die Leute schieben sich von dort und von hinten gleichzeitig auf meine Freunde und mich vor den Wellenbrecher. Um uns rufen einzelne hektisch, die Dortmunder kommen. Die Gästefans standen auf der anderen Seite vom Marathontor und konnten über die Gegengerade ungehindert in die Nordkurve wechseln. Wenn das geschah, dann kurz und heftig mit viel Bewegung innerhalb des Mobs. Nicht alle dort wollten sich prügeln. Andere, die sich wehren wollten, preschten nach vorne. Die Enge im Mob verhinderte die flüssige Bewegung zwischen denen, die sich dem Angriff stellen wollten und denen die sich zurückzogen.

Ich hatte versucht links am Wellenbrecher vorbeizurutschen, um nach unten zu kommen. Doch der Druck der Menge presste mir den linken Pfosten des Wellenbrechers in Bauch und Brust. Ich kam nicht vor und zurück. Der Druck nahm zu. Während ich sah, dass die anderen es geschafft hatten, unter dem Wellenbrecher wegzutauchen, geriet ich in Panik. Der Wellenbrecher drückte tief in meinen Körper. Ich bekam kaum Luft und versuchte mich immer dünner zu machen. Endlich flutschte ich an dem Pfosten vorbei. Eine Stufe tiefer hielt der Wellenbrecher nun den Druck der Menge von uns. Zudem kehrte allmählich wieder Ruhe ein. Alle um uns herum richteten die Aufmerksamkeit wieder auf das Spiel, und damit verblasst meine Erinnerung an den Sieg des MSV bei jenem Abendspiel gegen den BVB, das möglicherweise das Halbfinale im DFB-Pokal 1975 gewesen ist. In der ARD-Mediathek findet sich ein kurzer Spielbericht jener Tage von dem Halbfinalsieg. Sehr schöne Bilder, die meine Erinnerung dennoch nicht schärfen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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