Zwei Deutsche in Le Havre

Wenn ich mich für ein paar Tage an einem anderen Ort aufhalte, probiere ich ja gerne aus, wie sich dort ein anderes Leben anfühlt. Momentan versuche ich mich gerade als Anhänger von einem der ältesten Fußballvereine Frankreichs – vom Le Havre AC. Für uns Duisburger ist das nicht schwer. Hafenstadt, Zweitligist, immer wieder auch Erste Liga. Es gibt Erfahrungen, die mich schnell Anschluss finden lassen. Gerade haben die Vorbereitungen auf die neue Saison begonnen. Nächsten Mittwoch Testspiel gegen Rennes. Zweitligist mit Ambitionen. Ganz da ist der MSV noch nicht wieder, vor allem aber war der MSV noch nie Meister seines Landes wie 1899 der Le Havre AC. Die Geschichte dieser Meisterschaft erzähle ich auch ohne Vorerfahrung im alten Leben  sehr gerne, seit ich sie im französischen Wikipedia-Artikel zu Le Havre AC gelesen habe.

Auch für den Fußball der Anfänge war im zentralistischen Frankreich Paris das Maß aller Dinge. Im Grunde war es wahrscheinlich sogar so, niemand in Paris nahm den Fußball außerhalb der Stadt ernst. Das wollte 1899 eine gerade zwei Jahre alte Sportorganisation, die Union des sociétés françaises de sports athlétiques (USFSA), ändern. Sie rief die Fußballvereine Frankreichs auf, an einer gesamtfranzösischen Meisterschaft teilzunehmen. Le Havre AC und l‘Iris Club lillois waren die einzigen Vereine außerhalb von Paris, die dem Aufruf folgten. Das Schicksal meinte es dann gut mit dem Le Havre AC. Das Ausscheidungsspiel für das Finale um die französische Meisterschaft gegen den Pariser Meister gewann Le Havre kampflos, weil der Gegner aus Lille wegen Grippeerkrankungen nicht antrat.

Dazu hatte der Pariser Meister eine ganz eigene Meinung. Denn was ein richtiger Pariser ist, der hat seinen Stolz und will gegen Provinzler nur spielen, wenn der sich schon einmal bewiesen hat. So weigerte sich der Pariser Meister gegen Le Havre als einer Mannschaft ein Finalspiel zu bestreiten, die auf dem Weg ins Finale nicht ein einziges Mal Fußball gespielt hat. Vielleicht eine Frage der Ehre, die damals von der USFSA als nicht ganz so wichtig angesehen wurde wie die Autorität der eigenen Entscheidung. Die USFSA-Funktionäre entschieden, wenn die Pariser Mannschaft nicht antritt, wird Le Havre AC eben Meister. Meisterruhm ohne ein Spiel. In diesem Wettbewerb hätte sogar ein MSV vor der eigenen Gründung noch gute Chancen gehabt. Ob man Wikipedia bzw. dem Fußballhistorienbuch, auf das sich berufen wird, glauben soll, ist in dem Fall weniger wichtig. Die Geschichte ist einfach zu gut, um nicht erzählt zu werden.

Ein neues Stadion für 25.178 Zuschauer hat mein französischer Verein übrigens auch. Die Architekten haben sich beim Bau vom Stade Océane anscheinend von Stadien in der deutschen Voralpenregion inspirieren lassen.

Auf eine besondere Fußballer-Biografie hat mich mein neuer Verein auch noch aufmerksam gemacht. Der Le Havre AC war die vorletzte Trainerstation des Deutschen Max Schirschin, der als Spieler und Trainer in Frankreich, besonders beim FC Rouen, viel Anerkennung gefunden hat und dem hier im französischen Wikipedia ein ausführlicher Artikel gewidmet ist. Ein weniger ausführlicher Artikel findet sich im deutschsprachigen Wikipedia, in dem das Deutsch an einigen Stellen ungewöhnlich  wirkt, so als habe ein Nicht-Muttersprachler dafür sorgen wollen, dass über diesen Mann auch in seiner alten Heimat zumindest ansatzweise etwas zu erfahren ist.

Der 2013 im Alter von 92 Jahren gestorbene Max Schirschin begann in Oberschlesien mit dem Fußball. Ab 1939 spielte er im ersten Jahr des Zweiten Weltkriegs für eine Saison beim FC Schalke 04. Danach wurde er von der Wehrmacht eingezogen. Am Ende dieses Krieges war er als Kriegsgefangener in einem französischen Lager in Hyères inerniert. Nach seiner Entlassung beschloss er, in Frankreich zu bleiben und begann wieder mit dem Fußball. Nach kürzeren Engagements im Süden und Westen kam er zunächst für zwei Jahre zu meinem Le Havre AC, bis er dann in den 1950er Jahren beim FC Rouen eine längere sportliche Heimat fand. Seine aktive Zeit als Spieler endete dort. Danach arbeitete er als Trainer unter anderem auch beim FC Rouen über 20 Jahre. Lese ich all das, sehe ich die Biografie eines Menschen mit und quer zur europäischen Geschichte. Über einen Deutschen, der im Nachkriegsfrankreich erfolgreich wurde, ließe sich bestimmt einiges erzählen.

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