Wenn ein Stadion die Abstiegsangst wegschreit

Der Schalldruck im Duisburger Süden muss groß gewesen sein in der 85. Minute des Spiels vom MSV Duisburg gegen den TSV 1860 München. Als Victor Obinna den 2:1-Führungstreffer für die Zebras erzielte, knallte diese Arena ihre Begeisterung als Explosion heraus. Danach hielt das Toben und Schreien an, nicht nur auf der Nord, wo es ohnehin immer am lautesten ist. Auch auf den Geraden wussten die Zuschauer nicht mehr wohin mit ihren Gefühlen. Dieser Jubel von knapp 22.000 Anhängern des MSV Duisburg walzte aus dem Stadion, ließ Fensterscheiben vibrieren, schwappte über die Parkplätze, hob das Wasser auf der Regattabahn zu kleinen Wellen und verlor sich in der anderen Richtung allmählich in den Straßen zum Hauptbahnhof. Der Duisburger Süden wurde mit gemeinsamer Glückseligkeit und Erlösung durchdrungen.

Solch ein ekstatischer Ausbruch des Jubels geschieht, wenn die kaum mehr vorhandene Hoffnung auf eine Glück verheißende Rettung wie den Klassenerhalt wider Erwarten durch eine Heldentat wie den Auswärtsieg gegen einen hohen Favoriten befeuert wird. Wenn dieser Hoffnung ein paar Tage Zeit bleiben zu wachsen und sie zugleich in Gedanken schon wieder gefährdet wird. Wenn diese Hoffnung nur durch den Sieg im Spiel weiter lebendig bleibt. Wenn das Spiel selbst dann doch verloren scheint, das Ende nahe ist und wenn dann, in der eigentlichen Torschuss-Situation wir einen winzigen Augenblick Zeit haben, die große Chance zum Tor in dem Ausmaß ihrer gesamten Folgen für die Zukunft intuitiv zu erfassen. Wir denken es nicht, aber wir fühlen es, weil das Tor nicht von jetzt auf gleich fällt. Wir sind  dann vom Scheitern bedroht. Unsere Körper werden miterfasst von der Bewegung des Stürmers, wir spielen gleichsam mit.

Unsere Beine verknoteten sich beim Versuch, zugleich auf unserem Platz zu bleiben und diesen halbhohen Ball unter Kontrolle zu bringen, der von Kingsley Onuegbu zurückgeprallt war in den freien Raum an der Strafraumgrenze. Diese Ekstase konnte Raum greifen, weil wir alle die Last der Verantwortung in diesem Moment spürten. Weil wir diesen winzigen Moment Zeit hatten, um zu fühlen, wie nah Erfolg und Versagen beieinander liegen. Das alles geschah in uns, ohne dass wir es in Begriffen dachten, denn wir waren nichts anderes als unsere Körper, die sich vorbeugten, hin- und herbewegten, verkrampften, die bereit waren, etwas zu machen, ohne dass sie eingreifen konnten. Wir waren dabei, holten noch einmal Luft, hielten den Atem an und wurden eins mit Victor Obinna, dem es gelang den halbhoch springenden Ball direkt zu nehmen und ihn ins Tor zu schießen – am heraus eilenden Torwart ebenso vorbei wie an den versetzt stehenden zwei Feldspielern. Weil für all das dieser winzige Moment Zeit war, entlud sich die angestaute Luft in diesem ekstatischen kollektiven Aufschrei. JA!

Wir hatten eine erste Halbzeit gesehen, in der beide Mannschaften vor allem anderen keine Fehler machen wollten. Beide Mannschaften versuchten ein kontrolliertes Aufbauspiel, was auf Seiten des MSV zu erwarteten Schwierigkeiten führte. Dieser MSV entwickelt bei dieser Spielanlage keine durchgängige Offensivkraft. Das wissen wir, und das fürchtete nicht nur ich. Sehr viel druckvoller wurden auch die Münchner nicht, obgleich ihr Zusammenspiel mehr Potential aufwies, als wir es bei den Zebras entdecken konnten. Pässe und Laufwege der Löwen wirkten besser aufeinander abgestimmt. Die Mannschaft ließ den Ball besser laufen. Zu unserer Beruhigung blieb das ohne Folgen.

Sinnbildhaft für die Offensivstärke des MSV wird an solchen Tagen Giorgi Chanturia. Weil das Spiel des MSV in der kontrollierten Ausführung wenig Dynamik besitzt, liegt mehr Verantwortung bei ihm und seinen Dribblings im eins gegen eins. Sein Gegenspieler aber kannte von Anfang an seine Haken und seine typischen Bewegungen. Entsprechend harmlos blieb Giorgi Chanturia. Er wirkte früh frustriert. Auch sonst war irgendwann der Frust der Offensivspieler bei Fehlpässen zu sehen. Die Mannschaft wirkte so, als müsse sie irgendwann auch gegen eine schlechte Stimmung angehen.

Nach der Halbzeitpause blieb das Bild unverändert. Wenn ein Tor fiele, käme das überraschend zustande. Das war uns klar. Die Überraschung gelang den Münchnern mit einem Weitschuss in der 64. Minute. Das kannten wir aus dem Spiel gegen Heidenheim, und angesichts der Leistung an dem Tag konnte ich mir nicht vorstellen, wie nun noch der Ausgleich fallen sollte. Doch es gibt Gründe, warum auch 1860 München vom Abstieg bedroht ist. Die Ordnung der Defensive gerät bei druckvollem Spiel schneller durcheinander als die anderer Gegner. Als Nico Klotz für den immer unauffälligeren Chanturia eingewechselt wurde, geriet die Münchner Defensive sofort aufgeregt in Bewegung. Das wiederum war anders als im Spiel gegen Heidenheim. Es erinnerte vielmehr an das Spiel gegen Union Berlin. Thomas Bröker musste noch hinzukommen, damit in der Strafraummitte ein weiterer Stürmer Flanken aufnehmen konnte. Die Unruhe in der Münchner Defensive führte zu dem kuriosen Ergebnis, dass der Ausgleich bei der ersten Ballberührung Brökers aus einer recht statischen Situation heraus fiel. Flanke aus dem Stand heraus, Kopfballsprung fast aus dem Stand heraus, ein Kopfball nahezu in Rückenlage, der gegen den Innenpfosten trudelte, Richtung Tornetz sprang und vom Torwart auf diesem Weg zurückgeschlagen wurde. Wir lesen heute, Grund für einen Protest der 60er, die die Tatsachenentscheidung Tor als falsch ansehen. Hingegen hatte ich auch schon ohne Tatsachenentscheidung gejubelt – mit einer kurzen Irritation zwischendurch.

Die Stimmung war nun hochgekocht. Der Zorn der Münchner blieb erkennbar wie der Siegeswillen der Zebras immer mächtiger wurde. Zu Entlastungsangriffen kamen die Münchner nicht. Kurz nur sorgte ich mich, als Milos Degenek die gelb-rote Karte erhielt. Zu viele Erinnerungen an den Misserfolg gibt es in dieser Saison. Paderborn, das blitzte kurz auf, doch sofort war deutlich, kein Handballspiel-Imitat bekämen wir noch einmal zu sehen. Weiter ging es Richtung Münchner Tor, egal ob über die Mitte oder über die Außenbahnen. Der Ball musste irgendwie ins Netz. Das wollten die Spieler. Das wollten wir auf den Rängen. Das wurde geschrien. Das wurde bei jedem Angriff versucht, bis in der 85. Minute Victor Obinna jenen Angriff einleitete, den er selbst mit dem Führungstreffer abschloss.

Die Nachspielzeit bot noch einmal eine besondere Prüfung unserer Nerven. Drei-, viermal gelang es den Zebras nicht mehr, ruhig zu bleiben und den Ball in den eigenen Reihen zu halten. Dieser Ball war nur noch ein potentielles Gegentor. Möglichst weit weg vom eigenen Strafraum sollte er sein. Jeder Spieler des MSV schlug ihn nun weit nach vorne. Dummerweise kam der Ball augenblicklich wieder zurück. Zäh nur vergingen diese Minuten, in denen schließlich ein Münchner ein letztes Mal derart frei zum Schuss kam, dass ich den Ball schon zum Ausgleich im Netz gesehen hatte. Festgekrallt an der Schulter des Freundes bekam ich den Schlusspfiff nicht mehr richtig mit. Das Feiern des Sieges begann, und Erfolg im Abstiegskampf bedeutet nicht nur ein ekstatischer Jubel beim Führungstor. Erfolg im Abstiegskampf bedeutet auch, volle Zuschauerränge noch lange nach dem Schlusspfiff.

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