Vor der WM war mit Klaus Hansen ein alter Bekannter aus der MSV-Welt mit seiner WM-Prognose hier zu Gast. Schon mehrere Male waren in diesen Räumen Beiträge von ihm zu lesen. Der 1948 geborene Sozialwissenschaftler Klaus Hansen besucht seit der ersten Bundesliga-Saison bis heute die Spiele des MSV. Der Fußball ist ihm immer wieder Anlass zu Essays und literarischer Kunst, so auch in dem Fall die Weltmeisterschaft. „Der Scheich tritt auf“ hat er seine „WM-Notizen November / Dezember 2022“ genannt. Dankenswerter Weise hat er sie mir zur Veröffentlichung geschickt. In den nächsten Tagen könnt ihr sie in mehreren Folgen lesen.
Bitte schön!
Bevor es losgeht
Silvio, der italienische Wirt des „Caldo dal Forno“ kündigt an, alle Spiele der italienischen Mannschaft in seinem Lokal zu zeigen. Stefan glaubt, dass Deutschland schon im Achtelfinale an Argentinien scheitern wird. Georg meint, mit Kolumbien sei zu rechnen.
Silvio, Stefan und Georg sind Fußballfreaks, die immer „alles“ über Fußball wussten, stupend informierte und extrem leidenschaftliche Fans. Jetzt kokettieren sie damit, dass sie völlig unbeleckt sind, was die WM in Katar angeht und zum Beweis dafür schwätzen sie dummes Zeugs. Sie wissen ganz genau, dass Italien und Kolumbien gar nicht dabei sind. Und dass vom Turniermodus her Deutschland gar nicht im Achtelfinale auf Messi und die Gauchos treffen kann.
Wenn kleine Kinder wollen, dass man sie nicht sieht, schließen sie die Augen. Wie sollen mich die anderen sehen, wenn ich selbst nichts sehe! Kleinen Kindern nimmt man das ab. Erwachsenen Männern nicht. Sie möchten sich auf eine witzige Weise unwissend und desinteressiert geben, aber jeder merkt, dass sie sich künstlich dumm stellen. Und uns glauben machen wollen, das sei Protest, Boykott, Widerstand. Wogegen? Gegen den Austragungsort Katar, der seit zwölf Jahren feststeht und den man seit zwölf Jahren hätte verhindern können.
Prognosen
Dass die deutsche Fußballnationalmannschaft im Jahr 2006 Weltmeister werden würde, war zuvor statistisch exakt ermittelt worden. Man multiplizierte ’54 (1. WM-Titel) mit ’74 (2. WM-Titel) und subtrahierte 1990 (3. WM-Titel) und siehe da, „2006“ kam zum Vorschein. Ein gutes Omen! Leider ging die Rechnung mit den drei Bekannten nicht auf. Die Kaffeesatzleser störte das nicht. Sie erfanden flugs ein neues Kalkül: 1990 + 1974 – 1954 = 2010. Also wird man es in Südafrika richten! Das Kap der Guten Hoffnung stirbt zuletzt, oder so ähnlich. Es wurde wieder nichts. Dann hatte man die Nase voll und schwieg im Hinblick auf das Turnier 2014 in Brasilien. Und siehe da, es hat geholfen: Deutschland wurde Champion! Damit war man „automatisch“ Favorit für 2018. Aber das Ende kam schon nach dem dritten Spiel. Für 2022 haben sich die Erwartungen verändert. Erstmals wünschen viele der deutschen Mannschaft ein frühes Ausscheiden aus der „WM der Schande“. Erstmals erkennt man in der deutschen Nationalmannschaft eine Gruppe abgehobener Dumpfbacken, die nicht „Deutschland und seine Werte“ repräsentiert. Befreit von diesem Ballast – „Ist der Ruf erst ruiniert, spielt es sich ganz ungeniert“ -, kann es die deutsche Mannschaft sehr weit bringen. – Aber halt! Schon wieder eine Prognose! Das muss ja in die Hose gehen.
5. 11.
„Wir fahren nach Katar, um den Titel zu holen“, Oliver Bierhoff, DFB. Der Mann ist also bereits beim siebten Spiel, obwohl man noch nicht das erste gespielt hat. Sepp Herberger wäre das nicht passiert: „Das nächste Spiel ist immer das schwerste.“
Kulturelle Ödnis
In den letzten Jahrzehnten waren Fußball-Weltmeisterschaften immer auch ein Anlass, um das Fußballspiel künstlerisch zu reflektieren und kulturell zu überhöhen. Erzähler und Lyriker machten sich ebenso ans Werk wie Maler und Bildhauer. Der Fußball wurde besungen, getanzt und sonstwie performt. Ein wilder Ritt durch Jahrhunderte und Epochen, vom Steißball der Mayas, über den Calcio fiorentino bis zum Hornussen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Großes Theater! Nichts von alledem aus Anlass der 22. Fußball-Weltmeisterschaft in Katar. Nicht einmal eine Sonderbriefmarke der Post. Nur Werte-Geschwurbel und Boykott-Gelaber.
Naming
„Campeonato Mondial De Football“
Offizielles Plakat zur 1. Fußball-WM 1930 in Uruguay
„Campionate mondiale di calcio“
Offizielles Plakat zur 2. Fußball-WM 1934 in Italien
„Copa Del Mundo De Futbol“
Offizielles Plakat zur 12. Fußball-WM 1982 in Spanien
Mit der 14. Fußball-WM fing es an:
„FIFA World Cup 1990“
Aber erst zwölf Jahre später wurde es notorisch: „FIFA World Cup 2002“ / „FIFA World Cup 2006“ / „FIFA World Cup 2010“ / „FIFA World Cup 2014“ / „FIFA World Cup 2018“ -„FIFA World Cup 2022“.
Ist das diesjährige Konzert der Rolling Stones in Deutschland so angekündigt worden:
„KKP SCORPIO / CTS EVENTIM: The Rolling Stones 2022“?
Nein, so nicht. Der Veranstalter hält sich im Kleingedruckten. Die Großbuchstaben gehören dem Angebot, nicht dem Anbieter. Nicht so bei der FIFA.
Sie hält sich für wichtiger als der Fußball.
4 Antworten to “Gastbeitrag: Klaus Hansen mit seinem WM-Tagebuch – I –”